Auf dem Weg zur Arbeit hielt Claus an einem Herrenbekleidungsgeschäft und kaufte sich einen geeigneten Seidenschal, den er so gut wie möglich um den Kopf band. Der Verkäufer war ohnehin schon irritiert, als Claus mit seinem Handtuch auf dem Kopf durch die Tür kam. Als dieser aber Minuten später stattdessen mit einem ziemlich echt aussehenden Turban aus der Umkleidekabine trat, wurden die Augen des Verkäufers größer. Sehr lange blickte der Mann hinter ihm her. Zumal der Turban illuminiert schien. Oder tanzten ein paar Sonnenstrahlen auf dem Wunderwerk?

Die Nagelprobe stand Claus jedoch noch bevor. Was würden seine Mitarbeiter sagen und was seine Kunden? Programmierer standen zwar ohnehin in dem Ruf, etwas seltsame Menschen zu sein. Nicht umsonst werden sie oft auch als Nerd beschrieben. Aber dass er über Nacht muslimisch oder Hindu wurde, passte so gar nicht in die Vorstellungswelt seiner Kollegen, die ihn mit offenem Mund empfingen.

„He, Claus, soll das ein Turban auf deinem Kopf sein? Sieht schick aus. Oder gehörst du tatsächlich seit heute zu diesen indischen Religionsfreaks?“ Jan war wie immer vorlaut, auch zu seinen Vorgesetzten.

„Das ist doch wohl meine Sache“, murrte Claus eher beiläufig und tat so, als ob sein Kopfschmuck völlig normal sei.

„Du willst doch damit nicht sagen, dass du mit diesem Ding jetzt immer herumlaufen wirst?” Jan ließ nicht locker. Irgendwas stimmte da nicht. Claus war doch nicht plötzlich religiös geworden. Der hatte mit seinem Job mehr als genug zu tun. „Lass mich in Ruhe! Habe jetzt keine Lust, mit dir darüber zu diskutieren. Was macht unser Baby?“
„Dem geht es gut.“ Mit diesem Thema ließ Jan sich erfolgreich ablenken. Claus hatte auf ein Projekt angespielt, das sie beide faszinierte. Seine Firma hatte vor rund einem Jahr einen Auftrag bekommen, der eigentlich unmöglich zu erfüllen war. Trotzdem war er so reizvoll, dass Claus zugesagt hatte, einen Versuch zu starten.

Es ging um Künstliche Intelligenz (KI). Claus hatte vor einiger Zeit einen kleinen Aufsatz veröffentlicht, in dem er die Möglichkeiten beschrieb, eine sogenannte Kind-Maschine zu entwickeln. Also eine Software, die aufgrund der ihr zugrunde liegenden algorithmischen Struktur wie ein Kind selbständig lernen konnte – solange, bis es die Fähigkeiten eines Erwachsenen erwarb.

Das hörte sich einfacher an als es war. Heerscharen an Theoretikern und Praktikern hatten in den vergangenen Jahrzehnten an Modellen gearbeitet, die die KI aus ihren Kinderschuhen, wo die Fortschritte nur äußerst langsam vorangingen, in ein Zeitalter rascher Entwicklung führen sollten. Die Erfolge waren zwar durchaus beeindruckend. Schach- und „Go“-Weltmeister wurden unter Aufbringung aller zur Verfügung stehenden Kapazitäten geschlagen, aber die Menge an Rechenoperationen alleine machten noch keine menschliche Intelligenz aus. Inspiration, Kreativität, bewusstes Lernen aus Fehlern, das, was jedes menschliche Gehirn beherrschte, ließ sich nicht nachbauen. Zu komplex schienen die Vorgänge zu sein. Ein Millionen Jahre altes Erbe, von Generation zu Generation verbessert, war einfach nicht maschinell zu replizieren, vor allem auch, was die sogenannten Softskills betraf, also Persönlichkeit, Verantwortungsgefühl, Empathie oder auch Selbstkritik. Konnte eine Maschine jemals so etwas wie eine Seele besitzen? Moralisch integre Entscheidungen fällen? Jemanden lieben? Macht besitzen und ausüben wollen?

Claus hatte eine theoretische Lösung gefunden, die er zunächst seinen Studenten an der Universität Düsseldorf vorgestellt hatte, die aber auch weltweit für Aufsehen sorgte. Eine Maschine, die lernen sollte, wie ein Kind es tat. Also aus Fehlern, durch Nachahmen, durch Bestrafung und Belohnung, aus dem Bauch heraus, gesteuert von Trieben und wachsender Einsicht. Claus hatte sich vorgestellt, dass er hierzu eine Umgebung programmieren müsste, die die Entwicklungsbedingungen eines Kindes nachahmte und somit seiner Kind-Maschine vergleichbare Aufgaben stellte.
Daran arbeiteten sie nun. Claus, Jan und dazu noch Bernd und Alex. Alle gestandene Programmierer und heiß darauf, etwas Einmaliges zu erschaffen. Auf einem an der Bürowand aufgehängten 55-Zoll-Bildschirm war das Ergebnis ihrer bisherigen Bemühungen zu sehen. BIRDIE, die Kindmaschine, war dabei, die ersten koordinierten Bewegungen hinzubekommen. Sie ähnelte tatsächlich einem kleinen Kind, das versuchte, sich auf  den Rücken zu drehen und über den elektronischen Teppich zu rollen. Sie hatten BIRDIE wie ein Roboterkind gestaltet, mit Armen und Beinen, täuschend echt.

Um den Trainingseffekt zu verstärken, sah BIRDIE ein Video, auf dem ein echtes Menschenkind die gleichen Anstrengungen unternahm. So konnten die Nachahmungseigenschaften ihres künstlichen, dem Menschen ähnlich verdrahtetem Gehirns, unterstützt werden und der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten. Noch ein Anlauf und dann war es geschafft. BIRDIE hatte sich gedreht und kullerte bald quer durch das virtuelle „Zimmer“.

„Super!“

Die vier schlugen sich vor Begeisterung gegenseitig auf die Schulter. Dabei verrutschte der Turban und Claus hatte alle Mühe, ihn auf der gewünschten Stelle festzuhalten. Lange konnte er sein Geheimnis nicht mehr bei sich behalten, das war klar. Aber nun galt die Arbeit und Konzentration der weiteren Entwicklung. Wann würde BIRDIE sich aufrichten und laufen können? Ihr sprachliches Vorwärtskommen hatten sie – wie beim Menschen – mit der körperlichen Entwicklung verbunden. Und deshalb war als Nächstes eine Übungseinheit „Sprechen lernen“ angesagt. In diesem „Alter“ von ca. sechs Menschenmonaten galt die Übung nicht der eigentlichen Sprache, sondern dem Unterscheidenlernen von Dingen und der Zuordnung von Begriffen zu Gegenständen. In einem weiteren Video wurden abwechselnd verschiedene Gegenstände gezeigt: zum Beispiel Banane, Baum oder Puppe und der jeweilige Begriff genannt. Die Entwickler hofften darauf, dass sich das Gehirn weitgehend selbst organisieren würde, wenn es der menschlichen Entwicklung nur möglichst ähnliche Erfahrungen sammelte. Was genau sich in dem elektronischen Gehirn von BIRDIE ereignete, wussten sie gar nicht. Sie hatten lediglich die Grundlagen in Form von neuronenartigen Elementen und synaptischen Verbindungen programmiert, die die Fähigkeit hatten, sich selbst zu vervielfältigen. Hinzu kamen bestimmte Grundfunktionen wie ein Belohnungssystem, das erwünschte Verhaltensweisen, die in Richtung Zielerreichung wiesen, mit zusätzlicher Energie belohnten oder auch Ordnungsfunktionen, die abweichendes Verhalten unter Strafe = Energieverlust stellten.

Ein ähnlicher Versuch war schon einmal schiefgegangen. Da funktionierte das Belohnungssystem offenbar nicht wie gewünscht.  Die zusätzlichen Energien liefen ins Leere, es gab kein Feedback. Das war jetzt anders. BIRDIE schien sozusagen versessen darauf, Energie zu bekommen, auch wenn sie sie gar nicht verwenden konnte. Als ob sie die Fresssucht überfallen hätte und Speck ansetzen wollte, so kam es den Jungs um Claus vor.

Aber das war ja genau so beabsichtigt gewesen.

Am frühen Abend verabschiedete sich Claus ungewohnt früh, denn er hatte ja noch etwas vor. Sein Turban war als Marotte akzeptiert worden, ohne dass jemand außer Jan weiter nachgefragt hätte. Zumindest an diesem Tag.

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