Zu Hause angekommen, blickte Claus in zwei fragende Gesichter. Anke gab ihm einen flüchtigen Kuss. „Was soll das? Lizzy hat mir erzählt, dass du mit diesem Ding da sogar in die Schule kommst? Willst du das nicht mal abnehmen?“

Claus blickte sie einen Moment ernst an. Dann nahm er den Turban von seinem Kopf.
Die beiden blickten ihn erstaunt an. „Und …? Warum trägst du neuerdings einen Turban? Ist das jetzt in Programmiererkreisen chic geworden?“ Anke fing an zu spötteln. Da hatte sie sich doch ernsthaft Sorgen gemacht, es könnte mehr sein als ein kleiner modischer Tick. Eine schlimme Hautkrankheit oder eine bislang noch nicht entdeckte Geschwulst, die bei dem dünnen Haarbesatz von Claus vielleicht erst jetzt klar erkennbar geworden war. Aber nichts von alledem. Auch Lizzy war erleichtert – oder sogar schon etwas enttäuscht. Wäre ja vielleicht doch spannender gewesen, wenn sich etwas unter diesem fremdländischen Ding versteckt hätte, ein magischer Trick mit einem Kaninchen oder so …

Claus wusste selbst nicht, ob er erleichtert sein sollte. Bildete er sich das Phänomen tatsächlich nur ein? Er sprang gleich wieder auf, um ins Bad zu gehen. Im Spiegel sah er das vertraute Bild. Ein nur teilweise verdeckter, bunt leuchtender Ring schien wie ein Fixstern festmontiert an seinem Hinterkopf zu existieren und machte jede ruckartige oder schüttelnde Bewegung mit. Was war das nur? „Wieso sehe ich dieses Ding und sonst keiner?“, fragte er sich mit einem Anflug von Verzweiflung. Vielleicht lag es am Spiegel oder am Hintergrund?

Claus nahm einen Handspiegel und blickte damit in alle Richtungen auf seinen Hinterkopf. Keine Änderung. Anke kam plötzlich herein und schaute ihn verwundert an. „Irgendwie benimmst du dich merkwürdig. Was willst du denn mit dem Spiegel? Bist du eitel geworden oder hast du Angst, eine komplette Glatze zu bekommen?“

Claus überlegte einen Moment, ob er ihr seine Beobachtung mitteilen sollte. Aber sie würde ihn für verrückt erklären! Das glaubt doch sowieso keiner, dachte er. Er würde morgen einmal zu Henry, seinem Neurologen, gehen. Henry war ein guter Freund. Vielleicht stellte dieser sogar fest, dass es lediglich eine Einbildung sei, die in den nächsten Tagen wieder wegging, hoffte er. Eine Art Überspannung im Gehirn. Die einen bekommen Kopfschmerzen und die anderen Halluzinationen. Wobei Claus von einem Fall, bei dem es um einen Heiligenschein gegangen war, noch nie gehört hatte. Aber das drang vermutlich ohnehin nicht nach außen.

Sein Handy meldete sich. Alex, der natürlich noch arbeitete, teilte ihm mit, dass BIRDIE gerade ihr erstes Wort „gesagt“ hatte. Für Laien klang das sicher seltsam, ging es Claus durch den Kopf. Ein elektronisches Wesen redete nicht, sondern buchstabierte allenfalls. Aber die Konrad Crew, so nannte sich die Firma von Claus, hatte vorsorglich eine Schnittstelle geschaffen, an der ein Sprachroboter angeschlossen war, der die Impulse der Maschine in Sprache umwandelte. Vielleicht, wenn BIRDIE es lernen könnte, würde man sich eines Tages mit ihr unterhalten können wie mit einem Menschen. Und jetzt war also der erste Erfolg zu verzeichnen …!

„Was hat sie denn gesagt?“

„Du wirst es nicht glauben.“

Claus wurde ungeduldig. „Komm schon, Alex. Spann mich nicht auf die Folter!“

„Sie hat ,Papa‘ gesagt.”

„Wie, was? Papa … Wie kommt sie darauf? Wen meint sie damit? Dich?“
Eine Maschine, die ohne Vorprogrammierung „Papa“ zu jemandem sagte, hatte es wohl auch noch nicht gegeben. Claus spürte so etwas wie Eifersucht, wenn BIRDIE tatsächlich zu Alex gesprochen hatte. Vielleicht hatte dieser sich in den Vordergrund gedrängt und heimlich mit BIRDIE geübt. Papa oder so etwas Ähnliches war schließlich Claus. Es war seine Masteridee, diese Art von Kindmaschine in die Welt zu setzen und nicht die seines Angestellten. Wäre ja noch schöner, wenn die Lorbeeren jemand anderem aufgesetzt würden, der zufällig für ihn arbeitete!

„Du bist offensichtlich gemeint“, antwortete Alex in Claus‘ aufgebrachte Gedanken hinein. „Ich habe ihr die Bilder vom letzten Betriebsausflug gezeigt. Einfach so. Und ganz klar hat sie dich wiedererkannt.“

„Aber wieso spricht sie mich mit Papa an? Woher weiß sie, dass ich ihr Erzeuger bin und dass Erzeuger ,Papa‘ heißen? Zumindest im menschlichen Bereich. Kann sie etwa schon denken, Verknüpfungen herstellen und sich Informationen beschaffen?“ Claus‘ Stimme bekam etwas Euphorisches. „Ich glaub, mich tritt ein Pferd!“

Alex wiegelte ab. „So schnell schießen die Preußen nicht. Sie muss diese Info, was ein Papa ist und wie er dazu kommt, aus dem Video ,Die Grundlagen menschlicher Gemeinschaft‘ entnommen haben, das wir ihr vorgestern vorgespielt haben, und diese Zusammenhänge auf unsere Firma übertragen haben.“

„Aber trotzdem, das ist doch eine unglaubliche Leistung, derart selbstständig und logisch mit Informationen umzugehen! Ich dachte, die ist gerade erst damit beschäftigt, das Aufstehen zu üben und schon überrascht sie uns mit Intelligenz!“

Claus war völlig aus dem Häuschen. Er lief in die Küche und umarmte Anke stürmisch. „Stell dir vor, BIRDIE kann denken! Sie hat mich als Inhaber unserer Firma erkannt und Papa zu mir gesagt. Ist das nicht unglaublich?“

Anke, eine norddeutsche, etwas unterkühlte Frohnatur, konnte den Wert dieser Aussage nur teilweise nachvollziehen. Computer und alles, was damit zusammenhing, waren ihr ein Graus. Sie hatte davon null Ahnung und war nur jedes Mal froh, wenn Claus ihre Probleme mit Hard- und Software immer im Handumdrehen lösen konnte. Aber sie hatte auch schon begriffen, dass die Zukunft des gemeinsamen Unternehmens sehr stark von dem Erfolg dieses Projektes mit BIRDIE abhing. Schließlich investierten sie seit Jahren in diese Idee und hielten sich mit anderen Aufträgen lediglich über Wasser. Seitdem der Amerikaner den Geldhahn aufgedreht hatte, war zwar alles besser geworden. Aber ohne Erfolg würde der wohl bald auch aussteigen.

„Das hört sich so an, als ob wir eine Flasche Wein aufmachen sollten. Ich wusste eigentlich nicht, dass unser elektronisches Kind auch sprechen würde. Aber, wenn es so ist, dann können wir uns bald sicherlich mit ihr unterhalten. Spannend finde ich das!“ Anke fand Gefallen an der Vorstellung, ein – wenn auch elektronisches – Kind ihr Eigen nennen zu dürfen. Das würde vermutlich abends pünktlich zu Bett gehen, nachts durchschlafen und tagsüber brav seine Aufgaben bearbeiten. Ob man es dann wohl auch umarmen und drücken konnte?

„Nein“, sagte Claus auf die entsprechende Frage. „BIRDIE wird nur elektronisch existieren können. Eine Umwandlung in eine analoge Form, also materiell, wie unser Körper, wäre ohnehin zu gefährlich. Dann könnte sie ihre Intelligenz womöglich gegen den Menschen einsetzen …“

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