Henry, genauer Dr. Henry Magnusson, residierte im vornehmen Oberkassel, mit Blick auf den Rhein, dort wo sich ein Teil der Düsseldorfer High Society ihre schmucken Villen erbaut hatte. Ein guter Neurologe, der gleichzeitig auch einen Abschluss als Psychiater vorweisen konnte und deshalb gut beschäftigt mit Patienten meist weiblicher Art war, die ihre manisch-depressiven Schübe, ihre psychopathischen Störungen und psychosomatischen Befindlichkeiten gerne in sein Behandlungszimmer trugen. Aber damit war sein Ehrgeiz noch nicht gestillt. Ein besonderes Interesse hatte er bereits im Studium für die Erforschung schizophrener Psychosen gezeigt. Dieses Thema machte seinen Alltag etwas bunter, denn er war damit auf Phänomene gestoßen, die sein Wirklichkeitsbild stark erschüttert hatten und die ihn oft mit großer Spannung erfüllten.

Mit Claus, der bereits am für ihn frühen Morgen gegen zehn Uhr in Henrys Praxis eintrat, verband ihn eine lang andauernde Männerfreundschaft. Gemeinsam hatten sie in einer Jugendmannschaft des SSV Düsseldorf-Knittkuhl gekickt, sich während des Studiums aber kurz aus den Augen verloren. Dann vor ungefähr fünfzehn Jahren waren sie sich in Düsseldorf wieder begegnet und seitdem sehr oft zusammen. Henry war es auch, der Claus bei der Programmierung von BIRDIEs Gehirn entscheidend geholfen hatte, die Grundlagen für das Zusammenwirken von verschiedenen elektronischen Bauteilen und entsprechender Software nach menschlichem Muster zu erstellen.

„Hey, Alter. Was gibt’s? Hast du fliegende Untertassen gesehen?“ Henry witzelte, weil Claus ihn in der Sprechstundenzeit aufsuchte, was ungewöhnlich war. Zum Biertrinken trafen sie sich in der Regel abends nach Feierabend.

Claus erzählte ihm seine Geschichte.

„Und du kannst diesen Ring jederzeit sehen?“ Henry blieb gelassen, denn solche Geschichten hörte er jeden Tag. Einen Heiligenschein hatte allerdings noch niemand vorgetragen.

„Hängt von der Beleuchtung ab“, beschrieb Claus weiter das Phänomen. „Im Dunkeln sehe ich ihn am besten.“

Da Claus sonst keinerlei Krankheitssymptome zeigte und auch bislang nichts Auffälliges in eine psychotische Richtung wies, stand auch Henry vor einem Rätsel. Vorsichtshalber ließ er Claus‘ Hirnströme durch ein EEG messen, das aber auch keine Unregelmäßigkeiten zeigte.

„Ehrlich gesagt, Claus: Ich habe keine Ahnung, wie du zu dieser Beobachtung kommst. Optische Halluzinationen entstehen oft durch psychische Störungen, aber bei dir spricht überhaupt nichts dafür. Einzig Schlafentzug könnte als Grund eine Rolle spielen. Aber dass du ausgerechnet einen Heiligenschein siehst, ist wirklich ungewöhnlich und hat möglicherweise tiefere Ursachen. Ich verschreibe dir erst einmal ein Beruhigungsmittel. Wenn du die nächsten Nächte besser und länger schläfst und diese Halluzination immer noch andauert, müssen wir uns einmal analytisch damit beschäftigen. Was macht eigentlich BIRDIE?“, wechselte der Neurologe das Thema.

Claus erzählte ihm von der ersten wirklich intelligenten Leistung ihrer gemeinsamen Kreatur. Sein Freund war natürlich überrascht, dass so schnell ein erster Erfolg zu vermelden war. „Da bin ich ja mal gespannt darauf, wie es weiter geht“, lächelte er.

Das war Claus auch. Er fuhr direkt in die Firma, wo er seine Mitarbeiter versammelt vor dem Bildschirm vorfand. Niemand nahm Notiz davon, dass er seinen Turban heute nicht mehr trug. Alle starrten gebannt auf das Geschehen, das sich vor ihren Augen auf dem großen Screen abspielte. BIRDIE war kurz davor, das Laufen zu erlernen. Sie zog sich an einem virtuellen Stuhl hoch, den die Entwickler eigens für diesen Zweck programmiert hatten, stand auf wackligen Beinen und fiel nach zwei, drei Schrittchen wieder hin. Nach einigen weiteren Versuchen schaffte sie es, den nächsten Stuhl zu erreichen und sich dort festzuhalten.

„Bravo! Bravo!“ riefen alle begeistert und BIRDIE schien sie zu hören, denn sie lächelte glücklich in die Richtung, wo sie das Bild dieser Gruppe sah. Während des Übens hatte sie schon vor sich hin gebrabbelt. Wörter wie Papa oder Mama, Banane oder Auto waren offensichtlich dabei. Ihr Lernprogramm sah für diese neue Stufe nun eine differenziertere Methode vor, die Begriffe, dazugehörige Bilder und Aussprache miteinander verband und neben konkreten auch zunehmend abstrakte Inhalte enthielten. Besonders der Ich-Bezug, d. h. sich selbst als handelndes und denkendes Lebewesen zu erfahren, geriet zunehmend in den Vordergrund, und zwar ohne, dass die Entwickler dies im Einzelnen vorprogrammiert hätten. BIRDIE lernte quasi von selbst, Fehler zu vermeiden und das Wohlwollen ihrer Lehrer zu generieren. Wenn sie belohnt wurde, dann blinkten grüne Lichter, sie hörte aufmunternde Worte und ihr Energiespeicher wurde aufgefüllt. Bei Fehlverhalten erfuhr sie umgekehrte Auswirkungen.

Claus und seine Crew wurden durch den Erfolg so motiviert, dass kaum jemand auf die Uhr schaute oder an Feierabend dachte. Es kam ihnen so vor, als ob sie Gott spielten oder zumindest einen Homunculus schufen. Einen künstlichen Menschen, der allerdings nur elektronisch existierte. Das spielte zurzeit jedoch keine Rolle. Durch die Tatsache, dass dieses Wesen virtuell zu beobachten und zu hören war, hatte jeder das Gefühl, dass er es hier mit einem richtigen Menschen zu tun hatte, wenngleich die fehlende Körperlichkeit sich natürlich auch bemerkbar machte. Das Papa-Gefühl ohne Schmuseeffekt war tatsächlich eher künstlich, der Stolz über die vollbrachte Erzeugerleistung fühlte sich dagegen voll normal an.

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