Das Parfum

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Irgendwie war es verlockend, die Reling zu ergreifen und sich vorzustellen, kurz darüberzuhüpfen und im von der Schiffsschraube aufgewühlten Seewasser auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Um diese Zeit, kurz nach Mitternacht, waren kaum noch Menschen an Deck und die hatten primär mit sich selbst zu tun.

Aber Adamo, 33, war nicht lebensmüde. Es war eigentlich auch nur der Kitzel der Vorstellung, etwas Endgültiges zu tun, von dem es kein Zurück gab. Aus, Ende.

Doch warum das Leben wegwerfen? Dafür ging es ihm doch gut genug, um nicht zu sagen, viel zu gut. Zwar war der Vater gestorben, als Adamo erst sechs war, und seine Mutter, eine waschechte Italienerin, musste die beiden Kinder, einschließlich der fünf Jahre älteren Celina, mit einem kleinen Frisiersalon in einem sauerländischen Städtchen alleine durchbringen, aber so richtig geschadet hatte es dem hübschen, leicht melancholisch wirkenden Jungen offenbar nicht. Immerhin hatte er es schon bis zum Firmenchef einer eigenen Finanzagentur geschafft und konnte sich diese Reise auf der AIDA zusammen mit seiner Schwester locker leisten.

Aber Geld war auch nicht alles. Adamo ergriff das glatte, braune Holz der Reling auf diesem deutschen Musterkreuzfahrtschiff noch einmal mit beiden Händen. Was würde passieren, wenn er diesem Impuls einfach nachgäbe. 15, 30 Minuten im Wasser mit den Wellen kämpfen, vielleicht noch rufen, schreien, Todesangst spüren, Wasser schlucken, husten, schwächer werden, noch mehr Wasser schlucken, aufgeben … Seine Schwester würde verzweifelt sein, seine Mutter einen Herzinfarkt bekommen, aber bald wäre er vergessen. So wie nie gelebt, eine verblassende Inschrift auf einem vermoosten Grabstein.

Adamo ließ die Reling wieder los. Angstschweiß hatte sich schon auf seiner Haut bei dieser Vorstellung gebildet. Wie schmal ist doch der Grat zwischen Sein und Nichtsein. Aber Adamo wollte leben, wollte das Leben, dessen Füllhorn gerade anfing, sich über ihn auszuschütten, mit allen Facetten genießen.

Er ging zurück unter Deck und setzte sich an den verwaisten Yamaha-Flügel in der Nightlife-Bar. Eigentlich konnte er kaum richtig Klavier spielen, aber das Adagio aus der Pathetique war sein absolutes Lieblingsstück und das hatte er so oft schon gespielt, dass es sich ganz passabel anhörte und die wenigen Zuhörer zum Bleiben animierte, statt in die Flucht zu jagen.

Dam, dam, dam – die traurig schöne Melodie hatte etwas Beruhigendes, aber auch Sehnsüchtiges an sich. Bei allem beruflichen Glück, vielen Freunden, einer märchenhaften, viel zu großen Penthouse-Wohnung im noblen Hofgartenviertel in Düsseldorf fehlte ihm noch eines, das Wichtigste vielleicht, die Liebe zur Dame seines Herzens. Bei diesem Gedanken stiegen ihm die Tränen in die Augen und seine Finger verhaspelten sich, sodass er aus dem Tritt kam und abbrechen musste. Wie sehr hatte er nach der letzten Trennung gelitten.

Adamo blieb noch einen Moment auf dem Hocker sitzen, wie gelähmt. Jemand kam an ihm vorbei, flüsterte ein leises „Schade“ und eilte davon. Er hob den Kopf und sah noch einen Schatten im Türrahmen. Wer war das? Ein seltenes Parfüm nach Jasmin mit etwas Weihrauch lag in der Luft, etwas ganz Außergewöhnliches. Adamo kannte sich da aus. Seine letzte Freundin arbeitete in einer Parfümerie und probierte ständig etwas Neues aus. Leider bezog sich dieses Verhalten auch auf Männer. Wahrscheinlich war sie einfach noch zu jung gewesen. Aber Adamo war in dem Alter, wo der Wunsch nach einer Familie immer heftiger wurde.

Der Nachtschlaf offerierte ihm seine Traumfrau. Lange brünette Haare, ein paar Sommersprossen im eher schmalen, markanten Gesicht, langbeinig und duftend nach Jasmin und Weihrauch? Vielleicht.

Am anderen Morgen traf er seine Schwester im Calypso beim Frühstück. Celine erinnerte in ihrem Aussehen keineswegs an ihr italienisches Erbe. Sie hatte dunkelbraunes Haar mit sportlicher Kurzhaarfrisur, grau-blaue Augen und war etwas pummelig. Wahrscheinlich der Kummerspeck, denn auch sie war mal wieder Single und das war mit 38 als Frau kein günstiger Zeitpunkt. Aber sie trug es mit Fassung und stürzte sich hier an Bord in nahezu jedes Vergnügen.

„Na, große Schwester, wieder einmal die Nacht zum Tage gemacht? Wer war denn heute der Glückliche?“ „Ach hör auf. Alles Schlappschwänze. Habe die ganze Zeit mit Ilona getanzt. Selbst der DJ war ein Langweiler. Geh gleich zum Yoga. Kommst du mit?“
Das war wohl nur eine rhetorische Frage. Da hätte sie ihn wohl gleich zum Fatburner einladen koönnen. Aber Adamo hatte weder einen Speckbauch noch Sinn für fernöstliche Rituale. Den Körper zu verdrehen, um ins Nirwana zu gelangen. Lachhaft.

Er brachte Celina noch zum Eingang des Body-und-Soul-Raumes, um danach unter Aufsicht von Florian, dem bordeigenen Golfpro, ein paar Golfschläge auf der Indoor-Range zu schlagen. Da passierte es.

Wieder huschte eine Gestalt an ihm vorbei und seine empfindliche Nase registrierte ein paar Moleküle dieses seltenen Parfüms von gestern Abend. Wie vom Donner gerührt blieb er stehen, sog noch einmal die Luft mit voller Lunge ein und folgte dann wie in Trance dieser Spur ins Innere.

Florian? Golf? Schnee von gestern. Mattscheibe war angesagt. Wo gerade noch das Gehirn nach dem üppigen Frühstück mit Omelette und frischem Papaya- und Mangosalat den Lustpegel auf ein paar sportliche Bewegungen einjustierte, war plötzlich Funkstille. Statt Gehirn an Muskel war die Befehlsgewalt in den Bauch oder tiefer abgerutscht.

Ob Yoga oder Bauch, Beine, Po. Adamo war plötzlich alles egal.
Rund zehn Frauen hatten sich schon mit Matten und Handtüchern bewaffnet und warteten offensichtlich auf den oder die Leiterin dieser Runde.
Seine Schwester schaute mehr als ungläubig, als sie ihren Bruder mit einer Yogamatte auf sie zugehen sah. „Was ist denn in dich gefahren? Hier geht‘s um Yoga und nicht um Aktienkurse!“

Adamo hatte sich fast automatisch eine Matte mit Handtuch gegriffen und dann seine Schwester angesteuert. Er nahm schweigend neben ihr Platz.

Dann ließ er seinen Blick schweifen, registrierte in seinem Unterbewusstsein die leichte Irritation der übrigen Teilnehmerinnen und dann trafen sie, ihre Blicke, sich. Grau-grüne Augen, brünette Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, ein leichtes Lächeln um ihre hauchdünn angemalten Lippen und die schlanke Gestalt in vollendeter Körperhaltung auf einem kleinen Kissen. Sie war der Duft aus dem osmanischen Märchenland. Keine Frage.

Adamo hatte diese Liebe auf den ersten Blick schon einige Male in seinem Leben gespürt. Es war wie eine Prägung. Der Verstand setzte aus und es gab nur noch ein Thema.

„Wie heißt sie?“, fragte er Celina.

„Wer? Wen meinst du?“ Seine Schwester folgte seinem starren Blick und fing an zu grinsen. „Ach so, jetzt verstehe ich. Du hast dich in Evi verknallt. Na dann, sieh dich vor. Die ist von einem besonderen Kaliber und leitet diese Gruppe.“

Auch das noch. Evi, eigentlich Evalotte, betrieb Yoga mit Leidenschaft. Sie war schon zweimal deshalb in Indien gewesen und hatte sich in einem Ashram bei Goa intensiv mit Hatha-Yoga beschäftigt und sich in der Vishnu-Lehre fortgebildet. Die AIDA hatte ihr ein interessantes Angebot gemacht und deshalb war sie jetzt hier. Und dann gestern Abend in der Bar diese Melodie und dieser Typ. Ihr Herz hatte sich in null Komma nichts wie eine Lotusblume geöffnet. Dieser Mann konnte zwar nicht Klavier spielen, aber sie fühlte, dass etwas Besonderes zwischen ihnen war. Das war nicht nur die Liebe zwischen Mann und Frau, sondern sie wusste instinktiv, dass es etwas Karmisches war, eine Aufgabe, ein Auftrag, der sie beide verband.

Und jetzt saß er vor ihr, offensichtlich von nichts eine Ahnung und schaute sie mit einem fast ergebenen Dackelblick an. Die Lotusblüte öffnete sich wieder und ihr Herz begann fast hörbar schneller zu schlagen.

„Ja, dann darf ich euch recht herzlich begrüßen an diesem wunderschönen Morgen. Selbst die männliche Energie ist heute hier vertreten.“ Noch mal ein Lächeln mit einer kleinen Verbeugung. „Dann bitte ich euch, sich auf die Matte zu legen und euer Bewusstsein in jeden Bereich eures Körpers zu lenken. Stellt euch bitte das Gefühl vor, ihr seid nur in euren Füßen. Erst der rechte Fuß. Nur den rechten Fuß spüren, dann …“

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