Erst vermutete er, dass dieses seltsame Licht hinter ihm durch die Schlitze der Jalousie zustande käme. Aber dann sah er im Spiegel, dass es rechts und links seines Hinterkopfes buchstäblich bogenförmig zum Vorschein kam.
Ungläubig hob er seine Hände und führte sie hinter seinen Kopf. Griff zu und fasste ins Leere. Was war denn das? Hatte er Halluzinationen? Claus schüttelte sich, drehte sich halb um, aber dieser seltsame Leuchteffekt blieb. Schien sich sogar um den Hinterkopf zu winden. War das ein Ring? Ein Ring, der leuchtete? So wie ein kleiner, schillernder Hula-Hoop-Reifen. Und das über seinem Hinterkopf?

„Was ist das denn für ein schlechter Scherz …“, murmelte er fassungslos vor sich hin. Irgendjemand musste ihm
gestern eine Droge in den Wein gegeben haben. Oder träumte er noch? Er zwickte sich fest in den Arm und stöhnte kurz auf vor Schmerz. Kein Traum. Das gab es doch nicht! Das war doch wohl nicht – er konnte es kaum denken – ein … ein Heiligenschein? So ein Ding, wie es die alten Meister um die Köpfe von Päpsten, Nonnen und Jesus Christus gemalt hatten?

Claus lief ins Schlafzimmer zurück, warf sich aufs Bett und begrub seinen Kopf unter der Bettdecke. Da stimmte doch etwas nicht! Wieso sollte er einen Heiligenschein tragen? Er, Claus Konrad, der alles andere als heilig, eher unheilig daherkam.

Seines Zeichens war Claus Programmierer. Er war 36, hatte Informatik studiert und war jetzt Inhaber einer kleinen Softwarefirma, die sich mit den digitalen Problemen anderer Unternehmen herumschlug. Sein Alltag war geprägt von Nullen und Einsen, der Architektur oft widerspenstiger Algorithmen und dem meist nächtelangen Kampf am Bildschirm mit der Müdigkeit. Er hatte weder Zeit noch die Kraft, sich mit philosophischen oder gar religiösen Fragestellungen auseinanderzusetzen. Seine kleine Familie – Anke, seine sehr selbstständige 35-jährige Frau, die sich weitgehend allein um die Erziehung ihrer gemeinsamen Tochter Lizzy kümmerte – sah ihn auch eher selten. Claus hatte deshalb oft ein schlechtes Gewissen, wenn er wieder einmal nicht zum Abendessen kam und morgens erst dann aufstand, wenn der Rest der Familie schon aus dem Haus war. Und jetzt dieses weitere Problem, dessen Natur ihm völlig unbegreiflich war und das ihn derart schockierte, dass er sich am liebsten weiter unter seiner Bettdecke versteckt hätte.

Stattdessen klingelte unablässig das Handy auf dem Nachttisch. Fordernd, eindringlich, nervtötend. Seine Hand wühlte sich endlich aus dem Bettenberg. „Anke“ zeigte das Display.
„Hi, Schatz!“
„Wieso meldest du dich nicht? Ich rufe schon seit Ewigkeiten an.“
„Sorry, aber ich war unter der Dusche.“
„Kannst du dich mal um deine Tochter kümmern? Lizzy hat Kopfschmerzen und will von der Schule abgeholt werden.“
„Ja, äh, mach ich. Aber …“

Schon hatte Anke aufgelegt. Claus war völlig ratlos. Wie sollte er mit diesem Scheiß-Ding über dem Kopf aus dem Haus gehen? Spätestens auf dem belebten Schulhof würde er verloren haben.

Claus zog sich hastig an und blickte wieder in den Spiegel. Der Ring war immer noch da. Blau, violett, rot mit einer Spur von Gelb drin. Schöner ließ er sich kaum malen.
Was konnte er jetzt tun?

Claus nahm ein Handtuch und legte es sich über den Hinterkopf. Aha, ein Teil des Lichtrings war nun nicht mehr zu sehen. Jetzt suchte er nach einem längeren Tuch und bauschte es zu einer Art Turban. Siehe da, das Ding verschwand darin fast vollständig. Aber er konnte doch nicht mit einem Turban durch die Gegend laufen – was sollten die Leute denken? Doch was würden sie erst denken, wenn er keinen Turban benutzen würde?

Also machte sich Claus auf den Weg. Beim Einsteigen ins Auto fiel das Tuch auf die Straße. Hastig schlang er es wieder um den Kopf und blickte sich verstohlen um. Keiner nahm Notiz von ihm. Alle hasteten selbstvergessen und gestresst an ihm vorbei.

Vor der Schule rief er seine Tochter auf dem Handy an.
„Ich steh vor dem Schulhof. Kannst du rauskommen?“

„Du musst aber noch unterschreiben”, quietschte die helle Mädchenstimme von Lizzy. Auch das noch! Aber Claus blieb nichts anderes übrig. Er stieg aus und nahm den Weg zum Schulsekretariat. Zum Glück war noch Unterricht, ihm begegnete niemand. Aber der Blick der Sekretärin war schon bezeichnend: Sie hielt ihn offensichtlich für etwas verwirrt, zumal Lizzy erstaunt fragte, warum er das Handtuch auf dem Kopf habe. „Das erkläre ich dir später,“ zischte er seiner Tochter durch die Zähne zu.

„Und?“, fragte die Achtjährige, als sie ins Auto eingestiegen waren. „Was soll jetzt der Quatsch mit dem Handtuch? Willst du das nicht endlich abmachen? Sieht ja bescheuert aus!“

Claus erwiderte zunächst nichts. Was sollte er auch sagen? Sie würde ihm ja doch nicht glauben. „Ich erkläre euch das heute Abend, wenn Mama dabei ist. Okay?”

Die Kleine war eigentlich nicht zufrieden, ließ sich aber schnell mit einem Lutscher ablenken, den Claus schon vorsorglich eingepackt hatte. Auch die Kinderfrau schielte ungläubig auf seinen Kopf, als sie Lizzy in Empfang nahm, sagte aber nichts. In der Familie war sie so einiges gewöhnt, vielleicht war der Herr des Hauses ja auch über Nacht zum Sikh konvertiert – man wusste ja nie! Aber ein Handtuch als Turban?

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