Das Ding an sich

Teil 2: Das Universum als Gedankenexperiment

5. Wege zur Freiheit

5.1 Ferguson: Die Veränderung der Veränderung

Daß Menschen schon von altersher sich darum bemüht haben, sei es mit Drogen, ekstatischem Tanzen, Fasten, usw. Bewußtseinsveränderungen her­bei­zuführen oder sogar ihnen zwanghaft aus­ge­setzt wurden wie bei vielen Scha­ma­nen, ist schon ausführlich zur Sprache gekommen. Wenn man die Geschichte die­ser Religionen, Mythen, Weisheitslehren betrachtet, gewinnt man den Ein­druck, daß es sich jahrtausendlang eigentlich immer nur um eine Minderheit han­delte, die ernsthaft und wirkungsvoll das Theaterspiel auf der Erde durch­schauten und eine geistige Weiterentwicklung betrieb, während die große Masse nur quälend langsam ihren Bewußtseins­stand verbesserte.

Die­se Situation hat sich möglicherweise jetzt verändert. Wie beim Schnee­ball­system ist offensicht­lich eine Lawine ins Rollen gekommen, die zur Zeit noch zaghaft spürbar, aber mit großer Dyna­mik um sich greift und wie eine Flutwelle höher und höher steigt.

„Sanfte Verschwörung“ nennt Marylin Ferguson diese Bewegung, in der alle Ver­tre­ter eines im weitesten Sinne esoterischen Standpunktes zusammengefaßt werden. In der ganzen Welt entstanden und entstehen Gruppen und Grüppchen von Menschen, quer durch alle sozialen und intellektuellen Schichten, die wie leuchtende Inseln von der neuen Zeit künden, der persönlichen Trans­for­ma­tion im Zeitalter des Wassermanns (Fergusson, M.: a.a.O.).

Das Bezeichnende an dieser Bewegung ist der Wechsel des Paradigma, also des Gedanken­rah­mens, in dem der Mensch eine Ordnung seiner Wirklichkeit versucht. Diese Ordnung wird durch sein Bewußtsein von der Welt, also durch seine Erkenntnisse bestimmt. Je nach Erweiterung des Bewußtseeinsstandes er­gibt sich eine Veränderung des Paradigma. Das war so, als man zunächst die Erde als Mittelpunkt des Universums ansah und dann umlernen mußte und das ist, wenn man erkennt, daß der Mensch keineswegs abgetrennt von seiner Umwelt ist und sie als Mülleimer mißbrauchen kann, sondern daß ihm vielfältige Beziehungen in ein Netz von Wirkung und Gegenwirkung einbinden.

Es hat sehr viele solcher Paradigmenwechsel gegeben. Die meisten wurden zunächst mit Spott und Hohn oder gar Feindseligkeit bedacht.

„Entdeckungen dieser Art werden ihrer Ketzerei wegen attackiert (als historisches Beispiel rufe man sich Kopernikus, Galilei, Pasteur, Mesmer in Erinnerung). Die Idee mag zuerst bizarr, ja sogar verschwommen erscheinen, weil der Entdecker einen intuitiven Sprung vollzogen hat, während ihm nicht alle Daten zur Verfügung standen. Die neue Perspektive verlangt einen derart raschen Umschwung, daß etablierte Wissenschaftler die Wandlung selten mitvollziehen. Wie Kuhn betont, sind jene, die erfolgreich mit der alten Sichtweise gearbeitet haben, emotional und gewohnheitsmäßig an sie gebunden. Gewöhnlich neh­men sie ihren beharrlichen Glauben mit ins Grab. Sogar mit über­wälti­gen­dem Beweismaterial konfrontiert, bleiben sie halsstarrig dem Fal­schen, jedoch Vertrauten verhaftet.“ (Fergusson, M.: a.a.O., S. 31)

Das neue Paradigma, das FERGUSON meint, wenn sie von sanfter Ver­schwö­rung spricht, ist nicht primär an einzelnen Fakten oder beschränkten Teil­be­rei­chen menschlichen Wissens aufge­hängt, sondern bezieht sich auf die ART und Wei­se der Veränderung selber. Die Menschen, die mehr oder weniger plötzlich ihren Bezugspunkt wechseln, erkennen, daß die seit Anbeginn ab­lau­fende evo­lutio­näre Transformation des Bewußtseins, also die Wahrnehmung und Verar­beitung von immer umfassenderen Inhalten, keine schicksalshafte Fügung ist, der sie blind unterliegen, sondern daß sie selbst bestimmen, wo, wann und was sie erkennen und lernen können.

Es geht also um „die Veränderung der Veränderung“; um die Erkenntnis, daß wir keine Opfer, keine Pfandobjekte sind und durch keine Bedingungen oder Konditionierungen begrenzt werden. Erst wenn wir dies begriffen haben, öff­net sich für uns eine Welt der Imagination und Trans­zendenz, die unser Lebens­paradigma als Folge der veränderten Einstellung von Grund auf er­neu­ert.

Das sind natürlich schöne Worte. Damit sie nicht leer bleiben, schauen wir uns ein­mal an, wie eine derartige Veränderung der Veränderung vor sich geht.

Was heißt das eigentlich „sich öffnen, die Welt transzendieren, die Flügel der Wahrnehmung ausbreiten“? Wenn wir aus dem Fenster sehen, blickt uns die Welt sehr gegenständlich mit abgegrenzten Oberflächen ausgedehnt in Zeit und Raum, also wie gewohnt, an. Wir können uns noch so sehr bemühen, nirgends wird plötzlich die Materie durchscheinend oder bekommt einen goldenen Glanz. Wir können auch mit verklärtem Blick in den Himmel starren und erleben trotzdem keine Vision. Nachts schlafen die meisten fest in ihrem Bett und wa­chen morgens ohne Zweitkörperabspaltung, nur mühselig einige Traumfetzen zu­sam­menklaubend, auf. Die andere Wirklichkeit scheint nur auf dem Papier zu stehen.

Wir haben uns in diesem Buch schon einmal mit der Entwicklung des Bewußt­seins befaßt und dabei einen wichtigen Einschnitt vermerkt, der vor einigen Tausend Jahren einen vorläufigen Höhepunkt markierte. Das Bewußtsein von einem Ich im Gegensatz zur Welt draußen hatte eine fundamentale Bedeu­tung für die Evolution des Menschen. Erst ab diesem Zeitpunkt bekam die be­wuß­te Wirklichkeit die Konturen in Zeit und Raum, die uns heute so selbst­verständlich erscheinen, und zwar so selbstverständlich, daß wir über den Grund und die Art und Weise unserer individuellen Existenz kaum nachdenken.

Wenn uns jemand fragt, ob wir uns selbst bewußt sind, werden wir ohne zu zögern ja sagen, obwohl wir uns eigentlich nie dieses Bewußtseins bewußt sind. Wir essen, arbeiten, unterhalten uns, machen uns Sorgen, hoffen, planen, lieben uns, ohne auch nur einmal innezuhalten, und uns selbst in einem bestimmten Moment als handelndes und denkendes Subjekt bewußt zu werden.

Um zu einer Veränderung der Veränderung zu gelangen, müssen wir deshalb uns zunächst selbst bewußt werden, und zwar nicht auf Kommando, sondern als permanentes inneres Verlangen, den Ursachen und dem Wirken seiner selbst auf die Spur zu kommen. Dieses „Erkenne dich selbst“, das schon seit Jahrtausenden als Orakelspruch den Tempel von Delphi ziert, meint Ferguson, wenn sie davon spricht, daß die persönliche Transformation damit beginnt, daß wir unsere Aufmerksamkeit auf den Fluß der Aufmerksamkeit selbst lenken. Was geschieht dann?

Zuerst nichts. Aber wer häufig genug übt, wird damit beginnen, sich selbst und seine Beziehung zur Umwelt aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Wer mit dem Bewußtsein des Bewußtseins sich umschaut, wird plötzlich Dinge und Sach­verhalte erleben, von denen er zwar vorher glaubte, sie zu kennen, jetzt aber ganz andere Züge an ihnen entdeckt.

Es kann vorkommen, daß jemand jahrelang jeden Tag auf einer bestimmten Straße entlang fährt und erst mit diesem veränderten Bewußtsein entdeckt, daß an einer bestimmten Kreuzung ein interessant gebautes Haus, eine künstlerisch wert­voll bemalte Fassade oder ein prächtiger uralter Baum steht. Genauso kann er sich selbst beobachten, wie er aufgrund lächerlicher Umstände einen Wut­anfall bekommt, nervös wird oder Angst hat. Er sieht sich selbst im Wechselspiel von Kräften, denen er normalerweise blind ausgeliefert ist und auf diese auto­ma­tisch reagiert.

Ein verändertes Bewußtsein bedeutet zunächst mehr Freiheit, mehr Wahl­mög­lich­keiten, mehr Lebensqualität; es sieht aber auch mehr Verbindungen, mehr Probleme und mehr Verantwortung. Am Anfang der persönlichen Transformation entwickelt sich deshalb auch das Bewußtsein von der Einheit allen Lebens, vom Werden und Vergehen, von der Verpflichtung zu helfen und von der Liebe als Allheitmittel. Die Verbindung zur Esoterik, zur Religion im weitesten Sinne, ergibt sich dann folgerichtig und damit auch der Zugang zu Erkenntnissen und Fähig­keiten, die weit über das Normal-Bewußtsein hinaus­reichen.

Das Bewußtsein auf das Bewußtsein zu richten ist aber nur eine mögliche Methode, die Schranken des Alltäglichen zu durchbrechen. Um zu verstehen, weshalb auch andere Methoden wie z.B. Fasten, Monotonie, Koans, usw. zum gleichen Ergebnis der Bewußtseinserweiterung führen, müssen wir uns das Funktionieren des Gehirns grob verständlich machen.

Wie viele andere Organe ist auch das Gehirn des Menschen paarig angeordet, wobei beide Teile normalerweise über eine Brücke verbunden sind. Aus Versuchen mit hirngespaltenen Personen weiß man, daß die rechte Hemisphäre für die Intuition, für Ideen, für die Phantasie und für die Emotion zuständig ist und die linke für Sprache, Logik, Ordnung und Kontrolle (Sagan, C.: Die Drachen von Eden, Zürich 1978, S. 85).

Eine westliche Eigenart schein es zu sein, die Bedeutung der linken Gehirnhälfte, den Verstand, überzubetonen und dagegen die rechte Hälfte, das Gefühl, zu leugen.

„Wir nehmen ohne Skalpell einen operativen Eingriff zur Gehirnspaltung an uns selbst vor. Wir isolieren Herz und Geist, Gefühl und Verstand. Abgeschnitten von der Einbildungskraft, den Träumen, Eingebungen und holistischen Prozessen der rechten Gehirnhemisphäre, ist die linke steril. Und die rechte Gehirnhemisphäre, die von der Integration mit ihrem organisierenden Partner abgeschnitten ist, setzt den Kreislauf ihrer emotionalen Ladung fort. Gefühle werden eingedämmt, wodurch sie möglicherweise im Stillen Unheil anrichten: durch Ermüdung, Krankheit, Neurose, durch ein durch­drin­gen­des Gefühl, das etwa nicht stimmt, daß etwas fehlt – eine Art kosmisches Heimweh.“ (Fergusson, M.: a.a.O., S. 90)

Das nur intellektuell funktionierende Gehirn zieht sich ohne gefühlsorientierte Beeinflussung auf das rein logisch Faßbare, auf das Definierbare, Abgegrenzte zurück. Alle Psychotechniken und Methoden zur Bewußtseinsveränderung haben deshalb den Sinn, dieses gegensätzliche Neben­einander­herlaufen unserer Gehirnhemisphären aufzubrechen und zu harmonisieren.

Dies geschieht in der Regel dadurch, daß der Mensch einer Situation ausgesetzt wird, in der die linke ordnungssuchende Gehirnhälfte kapituliert und die rechte den Einfluß zurückgewinnt, der ihr zusteht. Das Zen-Koan ist ein bezeichnendes Beispiel für den Versuch, den alltäglichen, logisch und linguistisch funktio­nie­ren­den Verstand durch ein Paradox außer Kraft zu setzen und in einem Moment der Hingabe, den Durchbruch zur Einheit zu vollenden.

Das Anstarren einer kahlen Wand, das Nicht-Denken und das Nicht-Tun, die Monotonie einer kreisenden Bewegung, auch die Nah-Todes-Erfahrung schaffen Situationen, in denen das müh­selig erreichte Ordnungssystem zusammenbricht und die Seele wie Phönix aus der Asche steigt.

Unsere Wahrnehmung beruht auf dem Feststellen von Unterschieden. In dem Moment, wo sie verschwinden, verlieren wir den gewohnten Halt und stürzen ins Un­ge­wisse. Ekstasische Techni­ken, Drogen, Hypnose, Traumbewußtsein über­winden den inneren Widerstand noch am leichte­sten, an den sich unser ängst­li­ches Ich klammert. Auf Dauer gesehen bedarf es aber einer inneren Um­stellung, die zu einer Transzendierung des Ich’s führt, d.h. das Ego nicht direkt tötet, sondern aus einer höheren, abgeklärteren Warte beobachtet.

Eine weitere Methode, ein verändertes Bewußtsein auf Dauer zu erreichen, sieht wie folgt aus:

 

 

5.2 Golas: Liebende Aufmerksamkeit

Thaddäus Golas, ein New Yorker Genie, sieht das Universum als eine unend­li­che Harmonie schwin­gender Wesen in einer fein abgestimmten Rangordnung ver­schie­dener Stadien von Aus­deh­nung, Zusammenziehen, Frequenz­modu­la­tio­nen, usw. Zu jeder Variation, jeder Kombination und jeder Schwingungsebene gibt es besondere Muster von Gefühlen und Ideen. Je weiter sich ein Wesen aus­dehnt, also höher schwingt, desto mehr erfährt es zeitlose Glückseligkeit, Frei­heit und allumfassendes Gewahrsein. Umgekehrt empfindet ein Wesen, das sich zu­sam­menzieht, das Gefühl von Masse, geringer Energie, Unwissenheit, Schmerz, Hass, etc. Deshalb haben wir immer die Erlebnisse und Wahrneh­mun­gen, die unserer Schwingungs­ebene entsprechen, wobei wir selbst die Frei­heit haben zu bestimmen, wieweit wir uns ausdehnen oder zusammen­ziehen wollen.

Golas meint, daß es der Mangel an Liebe sei, der uns zu dem macht, was wir sind.

„Was für ein Hirn, was für einen Körper du hast, die Familie und Gesellschaft, die geschichtliche, in der du geboren wurdest, alles das und mehr ist von dir selber bestimmt worden, von deinem Grad der Ausdehnung, von deiner Bereitschaft zu lieben. Niemand hat dir irgend­etwas aufgebürdet. Niemand hat dich gezwungen. Es herrscht absolute Ge­rech­tigkeit in der Erfahrung, daß jeder von uns jede Sekunde des Tages besitzt. In gewissem Sinne können wir uns alle beruhigen, denn nichts ist verborgen, nichts vergessen, nichts verloren, niemand im Stich gelassen.“ (Golas, T.: a.a.O., S. 18)

Alles, was wir zu tun haben, ist: Volle, akzeptierende und gewährende, liebende Aufmerksamkeit absolut allem schenken, was wir in unserem Geist, in unserem Körper, in unserer Umgebung und anderen Menschen sehen und erleben. Gutes und schlechtes Verhalten ist zweitrangig. Was auch immer wir tun, wir sollen uns dafür lieben, daß wir es tun. Wenn man nicht sicher ist, wie es sich anfühlt, liebend zu sein, dann soll man sich für seine Unsicherheit lieben.

Niemand braucht wirklich irgendeine Hilfe von irgendjemand anderen, niemandem muß man etwas sagen oder geben – wir sind alle gleich­wertig. Wir haben alle die gleiche Chance, uns in Liebe auszudehnen. Man kann trotzdem das Beste für unsere Mitmenschen tun, wenn man will. Für die Erleuchtung ist es aber nicht notwendig. Um sie zu erlangen, brauchen wir uns auch keine bestimmten Ideen, Tugenden oder Erfahrungen anzueignen. Wir sind nicht verpflichtet, irgendetwas zu sein oder nicht zu sein, solange wir in unserem Fühlen und Denken ganz sind. Ganz sein bedeutet, alles, auch das Gegensätzliche aufzunehmen und zu enthalten.

Wenn wir dagegen das Positive betonen, erschaffen wir auch gleichzeitig das Nega­tive. Wer Wissen zum Ideal erhebt, muß sich mit der Unwissenheit herum­schlagen. Wer heilig sein möchte, muß mit der Sünde leben.

Eine interessante Übung ist, darüber nachzudenken, wie man als vollkommenes freies, selbst­bestimm­tes Wesen daraufkommt, sich in einen Körper einzu­schließen, um auf der materiellen Ebene Spiele mitzumachen. Vielleicht ist es die höchste Versuchung, die Verantwortung abzuleh­nen, das Gegenteil des­sen, was es wollte, erschaffen zu haben. Als Folge davon leben wir als zusammen­gezogene Wesen in einer Welt der Unwissenheit und Sünde. Wenn wir jedoch dau­ernd offen und widerstandslos gegenüber solchen Negativa bleiben, sind wir nicht gezwungen, lange mit ihnen zu leben. Liebe ist deshalb die höchste und heiligste Handlung, weil sie immer in Bewegung ist, um das Nichtliebende einzuschließen.

Statt nach Ursachen und Wirkungen zu suchen, sollten wir sehen, daß wir in Wahrheit wie ein Pendel hin- und herschwingen. Wenn wir ins Kloster gehen, fühlen wir uns bereichert. Wenn wir einem verführerischen Vergnügen nachge­hen, fühlen wir uns vielleicht betrogen. Das Heilmittel gegen solche Verwirrun­gen ist, das Leben ohne intellektuellen Widerstand zu leben.

Alles, was wir erleben, wird uns aufgezwungen. Alles, was sich manifestiert, ist da, weil wir uns geweigert haben, es anzuerkennen. Wenn wir Autos ablehnen, wer­den wir unweigerlich eines Tages von ihnen überrollt. Wenn wir Kaffee ablehnen, werden wir zwangsweise in die Realität von Tee oder Kakao verstrickt. Jeder bestimmt selbst seine Erfahrungen. Was wir anderen mißgönnen, wird uns selbst vorenthalten. Je mehr wie uns in Liebe ausdehnen, desto mehr Liebe wird uns entgegengebracht.

Wenn uns etwas Böses widerfährt, dann müssen wir uns fragen, was wir auf einer Bewußt­seinsebene zu tun haben, wo so etwas Wirklichkeit wird. Dies ist die erste Frage, die wir uns zu stellen haben, wenn wir etwas Übles, Böses, Häßliches gewahr werden.

„Wenn du dir verstandesmäßig über diese Sache klargeworden bist, dann tu, was du gefühlsmäßig für richtig erachtest. Das Wesentliche ist aber, daß du akzeptierst, was dir widerfährt, daß du dein Bewußtsein offen hältst und daß du dich gegenüber dieser Erfahrung nicht verschließt. Das Verführerische des Bösen besteht ganz genau darin, daß es uns dazu verleitet, den Versuch zu machen, es zu eliminieren. Wenn dein Bewußt­sein offen ist, hat alles, was du in Bezug auf das Böse unternimmst, nicht mehr Bedeutung, als wenn du eine Rinne gräbst, um Überschwemmungswasser von deinem Haus abzuleiten.

Geh auf jeden Fall zum Arzt, wenn du krank bist; verunmögliche es, wenn dich jemand zu verletzen sucht; bitte mißliebige Menschen, dein Haus zu verlassen; zettle eine Revolution an: was auch immer du unternimmst, halte dein Gewahrsein offen, und sei dir bewußt, daß sich das Übel in deinem Leben manifestiert hat, weil deine Liebe gefehlt hat. Der wahre Feind, wenn es überhaupt einen gibt, liegt in dir selbst, in deinem Unvermögen, genug zu lieben.“ (Golas, T.: a.a.O., S. 47)

Um zu den höchsten Bewußtseinszuständen aufzusteigen, zwingt uns niemand dazu, uns zu kasteien oder zu quälen. Auch legt niemand absichtlich Hinder­nisse in den Weg oder verlangt von uns besonsere Prüfungen. Wir können diese Spiele mitspielen, sie sind aber keine notwen­di­ge Voraussetzung. Wir brauchen auch nicht darauf zu warten, bis unsere Lebenszeit abge­laufen ist. Alle Bewußtseinszustände sind hier und jetzt verfügbar. Jede Möglichkeit der Ver­gan­genheit und Zukunft besteht zeitlos, ist immer da. Zu sein, wer wir sind und diese Em­pfindung als höchstes Glück zu feiern, ist unsere Aufgabe.

 

 

5.3 Tulku: Raum projiziert Raum in den Raum

Thartang Tulku, Abkömmling eines tibetanischen Lamas, hat eines der an­spruch­vollsten Bücher aus dem Bereich der Esoterik geschrieben, dessen Inhalt wohl kaum jemand nach einmaligem Durchlesen verstanden haben dürfte. Daß bei dem Versuch, andere Wirklichkeiten mit sprachlichen Mitteln darzustellen, also prinzipiell Unbegrenztes mit abgrenzenden Begriffen zu erklären, Unver­ständ­nis geradezu programmiert ist, dürfte jedem klar sein.

Gerade deshalb ist es bewunderungswürdig, wie Tulku diesen schwierigen Ba­lan­ce­akt meistert und eine Wirklichkeitsschau präsentiert, die an Glaub­wür­dig­keit den bisherigen Darstellungen in dieser Richtung nicht nachsteht, sondern sie eher noch übertrifft.

Das zentrale Motto seiner offensichtlich auf tiefgreifenden Erfahrungen ruhenden Vision einer anderen Wirklichkeit faßt er wie folgt zusammen:

„Könnten wir sehen, ohne einengende Positionen einzunehmen, dann ist als innerstes Herz der Wirklichkeit eine wunderbare Vision verfügbar. Diese Vision kreist um RAUM, der ursprünglich friedvoll und offen ist. Diese Offenheit manifestiert sich als ein Zulassen vieler verschiedener Sichtweisen, die alle im RAUM hervorquellen, dahinfließen und einander begegnen. Obwohl in vollkom­men­der Ruhe, ist RAUM doch von Erscheinungen angefüllt. Aus diesem Grunde ist RAUM nicht statisch, sondern eine friedvolle Explosion sich weiter und weiter entfaltender Kreativität, die alle Äonen von Vergangenheiten und Zukünften ausfüllt, ohne damit seine Offenheit zu erschö­p­fen oder seiner Befähigung Grenzen zu setzen, eine noch größere Fülle von Anwesenheiten zu offenbaren.

In seinem Hervortreten ist alles Teil eines Balletts, das vom RAUM getanzt wird. Der Tanz ist grenzenlos, weitschwingend, ja unermeßlich. Jeder Tänzer springt auf, sondert sich ab und tritt wieder zurück, ohne jemals von der Offenheit des RAUMES getrennt zu sein.

Farben, Formen, alle Erfahrung – Kunst, Musik, Philosophie – sind Ausdruck­weisen des RAUMES. Auch wenn sie in ihrem Tanz ineinander verwoben sind und sich gegenseitig vollkommen durchdringen, bleiben sie doch eine frei­fließende Anwesenheit durchscheinender Konturen und Oberflächen. Jede Verwicklung, jedes Zusammentreffen ist ein tiefes und geheimnisvolles Spiel von zentraler Wichtigkeit, welches das nicht nachweisbare, mittelpunktlose Zentrum der Wirklich­keit markiert. Jede individuelle Anwesenheit ist dieses unbegrenzte, mittelpunktlose Zentrum … RAUM.

Wenn eine einzelne Feder und tausend Welten

in gleichem Maße dieser Raum sind,

wer kann dann noch sagen, welches das Enthaltende

und welches das Enthaltene ist?

Wer kann die Grenzen ausfindig machen,

die die Fülle und den Reichtum

des Lebens einengen könnten?“

(Tulku, T.: Raum, Zeit und Erkenntnis, München 1977, S. 23)

Es wird deutlich, daß für Tulku Raum nicht gleich dem gewöhnlichen Raum ist, den wir in unserer Vorstellung haben. Und doch schließt er diesen Raum, den er auch niedrigen Raum in Gegensatz zum GROSSEN RAUM nennt, in sein Raumverständnis ein. Für Tulku ist alles Raum. Nicht nur über und jenseits von uns ist Raum. Raum ist auch in uns und umgibt uns. In allen Objekten, die nur scheinbar hart gefroren sind, ist Raum. Was ist eigentlich Raum?

Eine einfache Definition wird behaupten, daß Raum etwas ist, was Dingen und Ereignissen Raum gibt, d.h. ihnen ihr Erscheinen ermöglicht. Und umgekehrt ist Raum ohne abgrenzende Objekte nicht denkbar. Diese gegenseitige Abhän­gig­keit deutet daraufhin, daß wir, indem wir nur den Dingen im Raum Beachtung schenken, möglicherweise eine fehlgeleitete Perspektive haben. Raum scheint tatsächlich, wie es sich ja auch bei genauerer Betrachtung des Mikro- und Ma­kro­­kos­mos zeigt, eine fundamentale, wenn nicht sogar eine existentielle Bedeu­tung zuzukommen. Ohne Raum könnte kein Ding existieren und jedes Ding besteht faktisch nur aus Raum. Raum scheint der Ursprung und der Ruhe­punkt aller Existenz zu sein.

Wenn wir unsere Wirklichkeit dahingehend beobachten, wie Raum und Dinge in Erscheinung treten, können wir sagen, daß Raum den Raum in den Raum projiziert. Sicherlich eine auf den ersten Blick unverständliche Formulierung. Wenn wir aber unsere vorangegangenen Bemer­kun­gen berücksichtigen, ist die­se Schlußfolgerung nur konsequent. Raum ist mehr als nur ein Nichts. Raum scheint unsere Wahrnehmung von Raum tatsächlich zu strukturieren.

Tulku meint, daß es eine unendliche Anzahl von Räumen gibt, die auf verschie­denen „Brennweiten“ – oder erkenntnismäßige Einstellungen zurückgehen. Jeder Raum hat seine eigene, auf subtile Weise begrenzende Dynamik. Es gibt höhere Räume im Sinne von umfassender und offener, und es gibt niedere Räume, die von den höheren Räumen eingeschlossen zu sein scheinen.

„Dieses ruft ein Bild konzentrischer oder ineinander ruhender Räume hervor; jeder dieser Räume läßt mehr zu als der Raum unter oder in ihm. Versuchen wir zum ersten Mal, uns in einen anderen Raum zu begeben, scheint es, daß wir wegen der relativen Un­durch­lässigkeit oder Unduld­sam­keit unseres gegenwärtigen Raumes dorthin durchstoßen und mit Gewalt vordringen müssen – daß wir die ‘Gesetzmäßigkeiten’ unserer Ebene ’durchbrechen’ müssen, um ‘ausbrechen’ zu können. Im allge­mei­nen scheint uns eine strenge Entweder-Oder-Logik zu gelten – entweder sind die Dinge ‘so’ oder sie sind ‘anders’. Deswegen mögen sich unsere ersten Bemühungen um Trans­zen­dierung ein wenig extrem ausnehmen, und der neue Raum mag für einige Zeit seltsam aussehen. Haben wir uns jedoch an den neuen Raum gewöhnt und schauen von dieser neuen Warte zurück auf unseren alten Raum, dann mag uns der alte Raum fremd vorkommen. Unsere Fähigkeit zuzulassen, zu beherbergen, muß größer und ausge­glichener werden.“ (Tulku, T.: a.a.O., S. 36)

Wenn wir auf dieser Reise durch immer höhere und umfassendere Räume auf einen Raum stoßen, der keine begrifflichen Vorstellungen mehr mit sich bringt, also auch nicht mehr abgrenzbar ist, dann handelt es sich um den Großen RAUM, der der eigentliche Urgrund allen Seins ist. Aus einer entsprechenden Perspektive betrachtet entpuppt sich die Ordnungsvorstellung von Räumen, die ineinander verschachtelt sind, als Illusion. Alles ist GROSSER RAUM – unbegrenzt, offen, ohne andere Dinge vom dasein auszuschließen. Auch unser beschränktes Erkennt­nis­ver­mögen, daß uns Dinge mit undurchlässigen Oberflächen sugge­riert, ist in Wahrheit GROSSER RAUM. Solange wir glauben, daß wir in einer Welt mit Mauern leben, wird auch unsere Wahr­neh­mung eine Mauer sein, die uns von den unendlichen Dimensionen, die uns zur Verfügung stehen, trennt. GROSSER RAUM wird nicht zu etwas. Nichts entsteht aus ihm. Nichts kann ihn ver­fäl­schen. GROSSER RAUM bleibt unbegrenzt, beherbergt alles und errichtet doch nichts, tut über­haupt nichts.

Man muß Tulku zugute halten, daß er sich nicht nur bemüht, Unbeschreibliches verständlich zu ma­chen, sondern er liefert auch eine Reihe von praktischen Übungen, die den Sinn haben, die selbst­gesetzten Grenzen der Wahrnehmung zu durchbrechen. Interessant ist schon allein die Auf­forderung, die Aufmerk­sam­keit auf den gewöhnlichen Raum zu richten, d.h. ihn zu entdecken.

Wir reden zwar ständig von irgendwelchen Räumen, machen ihn uns jedoch fast nie be­wußt. Im wesentlichen trainiert Tulku jedoch das Vorstellungsvermögen, d.h. die geisti­ge Imagination wie sie auch in anderen Psychotechniken z.B. in der Magie eine fun­da­mentale Rolle spielt. Eine der ersten Übungen besteht aus der Vorstellung von einem Riesenkörper, der so klar und detalliert wie möglich nach einiger Übungs­zeit vor dem geistigen Auge erscheinen soll.

Dann lautet die Auf­gabe, quasi mit einer Bewußtseinssonde durch die Poren der Haut dieses Kör­pers einzudringen und die innere Struktur zu erforschen. Mit Hilfe von Lehr­bü­chern besteht die zweite Stufe der Übung darin, sich alle Einzelheiten der Or­ga­ne, der Bakterien, der Zelle und Moleküle vorzustellen. Dabei soll das Bewußt­sein die Oberflächen dieser jeweiligen Systeme nicht abgeschlossen, sondern als durchscheinend und leuchtend empfinden. Wenn der Riesenkörper jetzt als ein unendlich komplexes Bündel durchscheinender Konturen vorgestellt wird, soll sich der Übende zwischen diesen Linien im Raum ge­­ben und sie öffnen „bis sie alle ein Raum werden“, der von allen Eigen­schaf­ten, Standpunkten, voneinander abgegrenzten Regionen und Mengen­vorstel­lun­gen vollkommen frei ist. Der Körper ist verschwunden. Es ist zu einem vibrierend lebendigen und trotzdem vollkommen offenen „Raum“ freigesetzt.

Natürlich läßt sich einwenden, daß diese Erfahrung eines offenen Raumes, wo vorher eine geschlossene Struktur war, nur in der Phantasie gemacht wird und mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat. Da wir mittlerweile jedoch davon ausgehen können, daß unsere normale Wahrnehmung nur einen Teilaspekt der Realität erfaßt, können die von Tulku empfohlenen Übungen, die sich noch wesentlich interessanter und vielseitiger fortsetzen, durchaus als Hilfsmittel angesehen werden, die Blase der erb- und gewohnheitsbedingten Wahrnehmung zu spren­gen und die Ganzheit des Selbst zu finden.

Damit sind wir am Ende dieses Buches angelangt. Zum besseren Verständnis erscheint es zweckmäßig, eine Art Resümee zu ziehen.

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