10. Epilog
Unsere Reise durch andere Wirklichkeiten ist zu Ende. Sind sie wirklich oder nur ein Traum? ist die Unterscheidung überhaupt sinnvoll? Ist sie nur eine Hilfskonstruktion, die dazu dient, daß wir uns in dieser Welt zurechtfinden?
Nehmen wir den Begriff der Wirklichkeit! Irgendetwas wirkt auf uns ein, und wir nennen es Licht, Geräusch, Wärme, Kraft usw. Wir machen uns daraus ein Bild und halten es für die Realität. Dabei wissen wir genau, daß dieser „Trick“ der Natur uns nur in die Lage versetzt, aus dem „Wellengetöse“, das uns umgibt, einiges auszuwählen, mit dem wir aufgrund unserer resonanten Wahrnehmungsorgane umgehen können.
Nur weil wir Augen haben, gibt es Licht und Schatten in dieser Welt, und nur weil wir Ohren haben, gibt es Straßenlärm und Mozart Konzerte. Außer uns und unseren Brüdern und Schwestern bis hinunter zur einfachen Zelle würde „niemand“ auf den Gedanken kommen, unsere Welt als bunt, geräuschvoll, duftend usw. zu bezeichnen. Wenn wir mit unseren Augen auf die Wirklichkeit sehen, blicken wir auf etwas Unbeschreibliches, für das wir keine Worte und keinen Verstand haben, um es zu erfassen. Trotzdem sehen wir ein ziemlich detailliertes Bild, das aber kein Abbild der Realität ist, sondern nur in unserem Kopf besteht. Ist das wirklich so?
Hermes Trismegistos, der Begründer der Alchimie, meint: „Es gibt kein Innen und kein Außen, denn was innen ist, ist außen“. (Friebe, M.: Das Omega‑ Training, Engelberg 1982)
Was heißt das? Nichts anderes, als daß auch die Unterscheidung zwischen Innen und Außen nur ein Notbehelf ist, mit dem wir uns verständlich machen. Wir sehen die Realität als Ansammlung von Dingen mit Oberflächen, die sich in Zeit und Raum ausdehnen, und berücksichtigen dabei nicht, daß alles miteinander verbunden ist und im Grunde eine Einheit darstellt. Wir identifizieren fortlaufend die uns gewohnten Vorstellungen von Zeit und Raum als reales Sein. Wir sind die Erzeuger unserer Wirklichkeit.
Auch die Unterscheidung zwischen Materie und Geist ist fragwürdig. Alles scheint geistiger Natur zu sein, und daraus könnte man folgern, daß unsere Umwelt auch mit geistigen Mitteln beeinflußt werden kann. Verändern wir unser Bewußtsein, also unsere Wahrnehmung, verändern wir auch unsere Wirklichkeit. Glauben wir an den Himmel, erschaffen wir die Hölle. Kleben wir am Geld, werden wir mit der Armut konfrontiert. Legen wir Wert auf Wissen, schlagen wir uns mit der Dummheit herum. Betonen wir die Wahrheit, quält uns die Lüge. Je stärker der Ausschlag in die eine Richtung ist, desto weiter schwingt das Pendel in die andere. Das Rad der Wiedergeburt ist nichts anderes als das Hin und Her zwischen Leben und Tod. Je mehr wir am Leben hängen, desto mehr fürchten wir den Tod, und je stärker wir uns im Tod, laut Tibetanischem Totenbuch, von den Visionen des Lebendigen beeinflussen lassen, desto eher gelangen wir wieder in einen weiblichen Schoß. „Selig sind allein die Armen im Geiste“, wie es in der Bergpredigt heißt, oder diejenigen, die „nichts haben, nichts wissen und nichts wollen“, wie Meister Eckardt sagt. Wenn wir sämtliche esoterischen Lehren auf eine Aussage reduzieren wollen, das heißt auf einen Schlüsselbegriff, dann ist es das Wort „Erlösung“, das sich mit Bewußtseinserweiterung, Erleuchtung, Ego Tod usw. umschreiben läßt.
Ob es nun Christus, Mohammed, Rudolf Steiner oder die hier genannten Propheten, Religionsgründer oder Verkünder anderer Wirklichkeiten sind: Alle fordern mehr oder weniger deutlich das Auflösen von Bindungen, denen wir ausgeliefert sind. Fortlaufend sind wir dabei, Bindungen aller Art einzugehen, sie zu bestätigen oder zu verstärken. Selbst wenn wir es schaffen, eine Bindung aufzugeben, stürzen wir uns oft in die nächste. Das eine mögen wir, das andere nicht. Hierzu haben wir Lust, dazu keine. Dort bestehen Verpflichtungen, da leisten wir Widerstand. Moral, Anstand, Ordnungssinn, Gesetzestreue, Hemmungen, Ängste, aber auch Liebe, Treue, Ehre, Egoismus, Sehnsucht alles zwingt uns in ein Korsett, in einen fast programmierten Lebenslauf, auf das Rad des Lebens. Wenn es nicht mehr wichtig ist, reich zu sein, werden wir auch keine Angst davor haben, unser Besitztum zu verlieren. Wenn wir gelernt haben zu fasten, brauchen wir weder Hunger noch Übergewicht zu fürchten.
Wenn Liebe zum Nächsten nicht diktiert wird von Habsucht, Egoismus, Gier und Leidenschaft, dann gibt es auch kein Leid, keinen Haß, keine Gewalt. Und schließlich: Wer den Tod nicht fürchtet, kann das Leben genießen. Im Augenblick der vollständigen Befreiung von allen Bindungen und Illusionen bleibt das Pendel oder das Lebensrad stehen. Dann ist der Punkt Omega des Teilhard de Chardin erreicht, über den Mystiker und Heilige, Weise und Religionsgründer berichten. Doch nicht nur auserwählte Menschen können solche Bindungslosigkeit erreichen. Jeder kann, um mit den Worten von Thaddäus Golas zu sprechen (Golas, T.: Der Erleuchtung ist es egal, wie du sie erlangst, Basel 1979, S. 18), sich in allumfassender Liebe über alle Grenzen und Hindernisse hinweg ausdehnen und das größtmögliche Glück genießen.
Hermann Hesse läßt den weisen Siddhartha sagen: „Die Welt, Freund Govinda, ist nicht unvollkommen oder auf einem langsamen Wege zur Vollkommenheit begriffen: Nein, sie ist in jedem Augenblick vollkommen, alle Sünde trägt schon die Gnade in sich, alle kleinen Kinder haben schon den Greis in sich, alle Säuglinge den Tod, alle Sterbenden das ewige Leben. Es gibt in der tiefen Meditation die Möglichkeit, die Zeit aufzuheben, alles gewesene, seiende und sein werdende Leben als gleichzeitig zu sehen, und da ist alles gut, alles vollkommen, alles ist Brahman. Darum scheint mir das, was ist, gut, scheint mir Tod wie Leben, Sünde wie Heiligkeit, Klugheit wie Torheit, alles muß so sein, alles bedarf nur meiner Zustimmung, nur meiner Willigkeit, meines liebenden Einverständnisses, so ist es für mich gut, kann mich nur fördern, kann mir nie schaden.“ (Hesse, H.: Siddartha, Frankfurt/M. 1980, S. 113 f.)