Das Ding an sich

Teil 1: Von Meister Eckardt bis Carlos Castaneda
Reise durch eine andere Wirklichkeit

8. Die Lehren des Don Juan

8.1 Auf den Spuren des Carlos Castaneda

Carlos César Arana Castaneda wurde am Weihnachtstag 1925 in Peru geboren, siedelte 1951 in die Vereinigten Staaten um, studierte von 1959 bis 1973 Anthropologie und erhielt im März 1973 den Dr. phil. Soweit ist an dem Lebenslauf von Carlos Castaneda nichts Ungewöhnliches. Interessant ist nur, daß er den akademischen Grad für eine Dissertation bekam, die jahrelang die internationale Bestseller Liste für zeitgenössische Literatur anführte. Castaneda hatte bereits vorher zwei Bücher veröffentlicht, die sich ebenfalls als „Hits“ erwiesen. Was war an den drei Büchern, die sich alle mit demselben Thema beschäftigten, so aufregend, daß sie sowohl vom allgemeinen Publikum verschlungen wurden und gleichzeitig wissenschaftlichen Anforderungen genügten?

Castaneda bezeichnet sich als Ethnologe, der u.a. seine Aufgabe darin sieht, bestimmte seltene oder ungewöhnliche Volksgruppen, ihre Sitten und Gebräuche vor Ort zu studieren, darüber sogenannte Feldnotizen anzufertigen und sie anschließend zu Berichten aufzuarbeiten. Nach seinen Angaben hatte Castaneda nichts anderes gemacht, als seine Erlebnisse in zusammenhängender Form niederzuschreiben und sie zu veröffentlichen. Daß diese teilweise spannenden, zumindest unterhaltenden Berichte auch wissenschaftlichen Kriterien entsprachen, mag an der besonderen Eigenart der Forschungsrichtung liegen, doch andererseits fragten sich Kritiker wie de Mille (de Mille, R.: Die Reisen des Carlos Castaneda, Bern 1980. Köhler, W.: Castaneda und die moderne Wirklichkeit, unveröffentlichtes  Manuskript), warum Castaneda nicht die übliche wissenschaftliche Begleitmusik in Form von Analysen, Vergleichen, Interpretationen usw. spiele, um damit seinem Werk Anerkennung in wissenschaftlichen Gremien zu verschaffen. In seinem ersten Buch hat Castaneda zwar einen Versuch in diese Richtung unternommen, doch das ist sicherlich nicht ausreichend, um wissenschaftliche Anerkennung zu begründen.

Für die meisten Leser spielt der wissenschaftliche Wert Castanedas Bücher eine unbedeutende Rolle. Willi Köhler unterscheidet drei Gruppen von Lesern: „Solche, die seine Bücher als Märchen oder eskapistische Phantasy lesen, solche, die seine andere Wirklichkeit für bare Münze nehmen, und solche, die seine Geschichten und die in Form platonischer Dialoge aufgezogenen Gespräche als bewußtseinserweiternde Denkspiele und als Fischzüge im uralten Meer menschlicher Denkmöglichkeiten ansehen.“ (Köhler, W.: Castaneda und die moderne Wirklichkeit, unveröffentlichtes Manuskript)

Bei der Betrachtung der Bücher Castanedas soll darauf verzichtet werden, den gesamten inhaltlichen Stoff wiederzugeben. Das Hauptinteresse liegt vielmehr auf der Entwicklung eines bestimmten Systems, mit dem die zentralen Aussagen und Er-eignisse in einen geordneten, überschaubaren Rahmen gestellt werden können. Wer sich für den Sprachstil Castanedas interessiert oder für das Schicksal des Helden, wird zu den Büchern selbst greifen müssen. Die hier benutzten Zitate dürften aber die Atmosphäre des Werkes und vor allem die Weisheit Don Juans angemessen wiedergeben.

8.2 Der Lehrbeginn

Castaneda beginnt seinen Bericht unter dem Titel „Die Lehren des Don Juan“ im Sommer 1960, als er als Anthropologiestudent an der University von Los Angeles mehrere Fahrten in den Südwesten des Landes unternimmt, um bei den dort lebenden Indianern Informationen über den Gebrauch von Heilpflanzen zu sammeln. Auf einer dieser Fahrten lernt er durch die Vermittlung eines Freundes einen alten Indianer kennen, der auf Castaneda einen ungewöhnlichen Eindruck macht und ihn auf zunächst unerklärliche Weise in seinen Bann zieht. Der Alte stellt sich als Yaqui Indianer vor, nennt sich Juan Matus, spricht ausgezeichnet Spanisch und wird von Carlos im späteren Verlauf ehrfurchtsvoll „Don Juan“ genannt. Der Ethnologe erfährt von anderen, daß dieser Don Juan ein „brujo“ sei, was soviel wie Medizinmann, Heiler, Zauberer oder auch Schamane bedeutet.

Castaneda beginnt, diesen mysteriösen Indianer regelmäßig in Mexiko zu besuchen. Allerdings erlebt er, gelinde gesagt, eine große Überraschung, denn von Heilpflanzen hört er zunächst nichts, sondern wird stattdessen in ein philosophisches, religiöses oder auch magisches System eingeführt. Don Juan ist der Lehrer und Führer, der Carlos als seinen Schüler auserwählt hat, wie er selbst früher von einem sogenannten „Wohltäter“ als Schüler auserkoren worden war.

Grundlage der Lehren des Don Juan ist die Vorstellung, daß die Welt, wie wir sie erleben, nur eine Beschreibung ist, daß die Wirklichkeit nicht wirklich, sondern nur eine Möglichkeit ist, eine von unendlich vielen, wie im sechsten Band deutlich wird (Castaneda, C.: Die Kunst des Pirschens, S. Fischer, Frankfurt / M., 1981,S. 312).

Als Kind lernen wir unsere Wahrnehmungen mit den Erklärungen der Erwachsenen in Übereinstimmung zu bringen. Erst wenn wir in der Lage sind, all unsere Wahrnehmungen so zu deuten, daß sie sich mit dieser überlieferten Beschreibung der Welt decken, werden wir als vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft anerkannt. Die wichtige Übung, der sich Carlos zunächst unterziehen muß, ist zu lernen, diese festgefügte Beschreibung der Welt abzulegen. So soll er beispielsweise damit beginnen, seine persönliche Geschichte auszulöschen. Wenn andere und letztlich er selbst nicht (mehr) wissen, woher er kommt, was er gemacht hat usw., entsteht eine Lücke, eine Art Nebel, der im Gegensatz zu dem geordneten Normalzustand steht und so Ausgangspunkt für die Erfahrung mit dem Unwirklichen sein kann.

In die gleiche Richtung zielt die Aufgabe, die eigene Wichtigkeit abzustreifen, die Weit nicht nur durch die „eigene Brille“, vom egozentrischen Standpunkt her, zu beurteilen, sondern zu begreifen, daß alle Menschen, Tiere und Pflanzen, alle Gegenstände dieser Welt gleich wichtig oder unwichtig sind. Das Gefühl, das Carlos hat, als Don Juan von ihm verlangt, mit den Pflanzen zu sprechen, als ob sie gleichwertige Partner seien, ist ein Zeichen für diese Verzerrung der Wirklichkeit in eine dem Menschen genehme Richtung. Bei einer anderen Gelegenheit spricht Don Juan über die Vorzüge eines Jägers und preist ihn als Menschen, der im völligen Gleichgewicht mit allem anderen sei. Ein echter Jäger tötet nur soviel, wie er verbraucht, und entschuldigt sich dafür bei den Tieren. Er überläßt wenig dem Zufall und übernimmt die Verantwortung für seine Taten.

Diese Lebensweise steht ganz im Gegensatz zu der Art, wie Carlos bisher gelebt hat, und so ist er geschockt, als ihm der Indianer eröffnet, daß er sich selbst als Jäger und Krieger, dessen Welt durch präzise Handlungen, Gefühle und endgültige Entscheidungen gekennzeichnet sei, und Carlos als Zuhälter bezeichnet, in dem Sinne, daß er nicht für sich, sondern für andere, für die Universität, für die Frau, für den Verleger usw. lebt. Carlos ist verwirrt und seine Verwirrung steigert sich noch, als er hört, daß die gewünschte Veränderung seines Verhaltens auch heißt, willkürlich erreichbar und unerreichbar zu sein.

Wir Menschen leben normalerweise „mitten auf der Straße“, wo jeder uns sehen kann, wo wir ständig erreichbar sind. Damit wird unser Leben und das unserer Mitmenschen zur Routine. Es gilt diese Routine zu durchbrechen, von der Welt nur soviel zu nehmen und ihr zu geben, wie es notwendig ist. „Unerreichbar sein bedeutet, bewußt darauf zu verzichten, sich selbst und andere zu erschöpfen.“ (Castaneda, C.: Reise nach Ixtlan, S. Fischer, Frankfurt / M., 1975, S.77)

Hier spielt Don Juan auf das Verhältnis von Carlos zu einer blonden jungen Frau an, das offensichtlich zu Ende ging, weil sie sich vor lauter Langeweile und Routine nichts mehr zu sagen hatten. „In diesem Fall“, so sagt er, „hättest du ein Jäger werden und sie nur gelegentlich treffen dürfen. Anders, als du es tatest. Du warst Tag für Tag mit ihr zusammen, bis nur noch ein Gefühl der Langeweile übrigblieb.“ „Unerreichbar sein bedeutet, daß man bewußt vermeidet, sich selbst und andere zu erschöpfen. Es bedeutet, daß man nicht hungrig und verzweifelt wird, nur weil man sich beispielsweise um das Essen sorgt. Sich sorgen heißt erreichbar, unvorbereitet erreichbar zu sein. Sobald man sich sorgt, klammert man sich aus Verzweiflung wahllos an alles Mögliche; und sobald man sich anklammert, wird man sich unweigerlich erschöpfen, oder man erschöpft denjenigen oder dasjenige, woran man sich klammert.“ (Castaneda, C.: Reise nach Ixtlan, a. a. 0., S. 77)

Auf den Einwand von Carlos hin, daß man in der normalen Welt, um zu überleben, sich nicht verstecken könne, antwortet Don Juan, daß unerreichbar sein nichts damit zu tun habe, sich nicht verstecken könne, antwortete Don Juan, daß unerreichbar sein nichts damit zu tun habe, sich zu verbergen oder diskret zu leben. „Ein Jäger benutzt seine Welt liebevoll und wohldosiert, ganz gleich, ob diese Welt aus Dingen oder Pflanzen, aus Tieren, Menschen oder Kräften besteht.“(Castaneda, C.: Reise nach Ixtlan, a. a. 0., S. 77)

Am Beispiel des Jägers demonstriert Don Juan noch eine weitere Eigenschaft, die sich Carlos erobern muß, wenn er den Zugang zur anderen Wirklichkeit finden will. Ein Jäger, der sein Salz wert sei, fängt das Wild nicht deshalb, weil er Fallen aufstellt oder weil er die Routine seiner Beute kennt, sondern weil er selbst keine Routine hat. Er ist anders als die Tiere, denen er nachstellt, die an feste Gewohnheiten und berechenbare Verhaltensweisen gebunden sind. Er ist frei, beweglich und unberechenbar. Don Juan macht Carlos den Vorwurf, daß sich dieser genauso wie die Tiere verhalte. Damit würde er automatisch zur Beute für andere. Wer die Beschreibung dieser Welt, ihre festgefügten Verhaltensweisen und Wahrnehmungen abstreifen wolle, der müsse sich anders als seine Beute verhalten, um nicht selbst gefangen zu werden.

In dieses Bild, das Carlos als einen willkürlichen Automaten zeigt, der nicht zu selbständigen, unabhängigen Entscheidungen fähig ist, paßt auch die Forderung, statt sich verantwortungslos treiben zu lassen, jede Handlung so wichtig wie „das letzte Gefecht auf Erden“ zu nehmen. „Der Tod“, sagt Don Juan, „ist unser ständiger Begleiter, er erinnert uns daran, daß wir keine Zeit haben, die wir nutzlos vertun können. Richte deine Aufmerksamkeit auf die Verbindung zwischen dir und deinem Tod, ohne Reue, Trauer oder Sorge. Richte deine Aufmerksamkeit auf die Tatsache, daß du keine Zeit hast und richte deine Handlungen darauf ein. Laß jede deiner Handlungen deine letzte Schlacht auf Erden sein. Nur unter diesen Bedingungen werden deine Handlungen die Kraft haben, die ihnen zusteht. Sonst werden sie, so lange du lebst, die Handlungen eines verzagten Menschen sein.“(Castaneda, C.: Reise nach Ixtlan, a. a. 0., S. 80)

Carlos fragt, ob es furchtbar sei, verzagt zu sein. Don Juan antwortet ihm: „Nein, das ist es nicht, wenn du unsterblich bist; aber wenn du sterben mußt, dann hast du keine Zeit, verzagt zu sein, einfach weil die Verzagtheit bewirkt, daß du dich an etwas festklammerst, das nur in deinen Gedanken existiert. Sie tröstet dich, während alles friedlich ist, aber dann wird die ehrfurchtgebietende, geheimnisvolle Welt ihren Schlund öffnen, wie sie ihn für jeden von uns öffnet, und du wirst erkennen, daß deine sicheren Wege ganz und gar nicht sicher waren. Verzagtheit hindert uns daran, unser Los als Mensch zu prüfen und zu nutzen.“ (Castaneda, C.: Reise nach Ixtlan, a. a. 0., S. 90)

8.3 Auf dem Weg zur Kraft

Der erste Schritt ist getan. Indem Don Juan Carlos lehrt, wie ein Jäger zu handeln, verändert er ihn und seine Einstellung zur Welt. Natürlich ist Carlos immer noch weit davon entfernt, wie ein echter Jäger zu handeln, aber er öffnet sich mehr und mehr der Kritik an seinem Verhalten. Eine unberechenbare Verhaltensweise, eine unabhängige Einstellung, eine gewisse Unerreichbarkeit, zusammen mit dem Verlust subjektiver Überheblichkeit, entspannt das Verhältnis zu den Mitmenschen und zur Welt erheblich, kann den Blick für andere Zusammenhänge freimachen.

Doch nachdem Carlos etwa ein Jahr in die »Schule« seines großen Meisters gegangen war, hielt Don Juan die Zeit für reif, seinen Schüler mit der Wirkung halluzinogener Pflanzen bekannt zu machen. Es handelte sich dabei im wesentlichen um Peyote, der genannten mexikanischen Kakteenart, um den Stechapfel und um einen Pilz. Und hier beginnt der eigentliche Bruch mit unserer bekannten Wirklichkeit, der sich von nun an wie ein roter Faden durch das gesamte Werk zieht.

Als erstes beginnt Don Juan mit einem Test, indem er Carlos selbständig seine positive Stelle auf dem Boden finden läßt. Nach seiner Meinung gibt es für Menschen, die nach Wissen streben, Plätze, an denen sie Kraft gewinnen können, und solche, an denen sie sie verlieren können. Carlos besteht diesen Test, nachdem er nach mehreren vergeblichen Versuchen eine unterschiedliche Färbung auf dem Boden bemerkt und deren Wirkung am eigenen Leib spürt. Zwei Wochen später erhält Carlos die Gelegenheit, Peyote, von Don Juan auch Mescalito genannt, im Kreise einiger Bekannten seines Lehrers auszuprobieren. Es hat dabei die seltsamsten Empfindungen, die nachstehend ausschnittsweise wiedergegeben werden.

„Ich sah die Verbindungskante zwischen Verandabogen und Wand. Ich drehte meinen Kopf langsam nach rechts, folgte der Wand und sah Don Juan gegen sie gelehnt. Ich bewegte meinen Kopf nach links, um mich auf das Wasser zu konzentrieren. Ich entdeckte den Boden des Topfes; ich hob meinen Kopf etwas und sah einen mittelgroßen, schwarzen Hund auf mich zukommen. Ich sah ihn auf das Wasser zukommen. Der Hund begann zu trinken. Ich hob die Hand, um ihn von meinem Wasser wegzujagen; ich konzentrierte meinen Nadelblick auf den Hund, um die Bewegung auszuführen und plötzlich sah ich ihn durchsichtig werden. Das Wasser war eine leuchtende, zähe Flüssigkeit. Ich sah, wie es durch die Kehle des Hundes durch seinen Körper floß. Ich sah, wie es gleichmäßig durch ihn hindurchlief und dann aus jedem einzelnen Haar aus ihm herausschoß. Ich sah die schillernde Flüssigkeit, die Länge des einzelnen Haares entlanglaufen und dann sah ich, wie es aus den Haaren herausschoß in einer langen, weißen, seidenen Mähne. In diesem Augenblick empfand ich heftige Krämpfe, und in einem Sekundenbruchteil formte sich ein Tunnel um mich, sehr 4 niedrig und eng, fest und merkwürdig kalt. Bei der Berührung fühlte er sich wie eine Mauer aus starker Blechfolie an. Ich empfand mich sitzend auf dem Tunnelboden. Ich versuchte aufzustehen, stieß mir aber den Kopf an der Metalldecke, und der Tunnel zog sich zusammen, bis er auf mich drückte. Ich erinnere mich, daß ich auf etwas zukriechen mußte, das wie ein runder Punkt am Tunnelende aussah. Als ich schließlich ankam, wenn ich überhaupt ankam, hatte ich den Hund, Don Juan und mich selbst völlig vergessen. Ich war erschöpft. Meine Kleider waren von einer kalten, klebrigen Flüssigkeit durchtränkt. Ich drehte mich hin und her, versuchte eine Lage zu finden, in der ich ausruhen konnte; eine Lage, in der mein Herz nicht so stark schlagen würde. In einer dieser Bewegungen sah ich wieder den Hund. Jede Erinnerung kam auf einmal zurück, und plötzlich waren meine Gedanken ganz klar. Ich drehte mich’ suchend nach Don Juan um, aber ich konnte nichts von niemandem unterscheiden. Ich konnte nur sehen, wie der Hund zu leuchten begann; ein starkes Licht strahlte von seinem Körper aus. Ich sah wieder das Wasser durch ihn fließen, es erleuchtete ihn wie ein Freudenfeuer. Ich gelangte ans Wasser, senkte mein Gesicht in den Topf und trank mit ihm. Meine Hände waren vor mir auf dem Boden, und während ich trank, sah ich die Flüssig keit durch meine Ader rinnen in roten, gelben und grünen Schattierungen. Ich trank mehr und mehr. Ich trank, bis ich in Flammen aufging; ich war ein einziges Glühen. Ich trank, bis die Flüssigkeit meinen Körper durch jede Pore verließ und wie Seidenfasern herausstand, und auch ich erhielt eine lange, strahlende leuchtende Mähne. Ich sah den Hund an, und seine Mähne war wie meine. Unendliches Glück erfüllte meinen ganzen Körper, und wir rannten zusammen zu einer Art gelber Wärme, die von irgendeinem unendlichen Ort ausging. Und dort spielten wir. Wir spielten und tobten, bis ich seine Wünsche kannte und er meine.“ (Castaneda, C.: Die Lehren des Don Juan, S. Fischer, Frankfurt/M. 1972, S. 37)

Don Juan deutet dieses Erlebnis als ein Zeichen dafür, daß Carlos ein auserwählter Mann ist: Mescalito, der sich in Form eines Hundes zeigt, spielt nach den Erfahrungen von Don Juan sonst nie mit jemandem, der es mit dieser Pflanze versucht. Später klärt er Carlos über die Bedeutung der Verbündeten (Hilfsgeister) auf, die er als Macht bezeichnet, derer sich ein Mann bedienen kann, um sein Wissen zu fördern. Es gibt eine Anzahl dieser Verbündeten; zwei stecken im Stechapfel, auch Teufelskraut genannt, und in dem Pilz, den Don Juan als „kleiner Rauch“ bezeichnet. Mescalito ist kein Verbündeter, sondern eher ein Lehrer oder Beschützer. Man muß dazu wissen, daß Don Juan bereits vorher darauf hingewiesen hat, daß es seiner Meinung nach Kräfte gibt, die uns Menschen leiten, die wir als „Geister, Lüfte, Winde und dergleichen“ bezeichnen und die „unvorhersehbar, ehrfurchtgebietend und dennoch großartig sind.“

Die Macht des Teufelkrauts hat den Nachteil, daß sie den Menschen zu seinem Sklaven macht, wenn er sich ihr ganz hingibt. Sie wirkt wie ein faustischer Pakt für Menschen, die Macht über sich und andere suchen, die ihre Sexualkraft stärken, andere töten wollen usw. Don Juan berichtet von seinen eigenen Erfahrungen, als er die Indianer erschreckte, wenn er mit der Macht des Teufelkrautes einen „Mann mit einem einzigen Schlag tötete, riesige Felsen umwarf, die Blätter der höchsten Bäume abschlug.“ (Castaneda, C.: Reise nach Ixtlan, a. a . 0., S . 91)

Die Macht des zweiten Verbündeten, die in dem Pilz, dem kleinen Rauch, steckt, ist weniger für die, die nach purer Macht streben, sondern für diejenigen, die „beobachten und sehen“ wollen. Der Rauch wird als Ratgeber und Wahrsager bezeichnet, obwohl auch er bei unsachgemäßer Anwendung gefährlich werden kann. „Die Schwierigkeit der Zutaten macht die Rauchmixtur zu einer der gefährlichsten Substanzen, die ich kenne. Niemand kann sie zubereiten, ohne angeleitet zu werden. Sie ist für jeden ein tödliches Gift, außer für den, dessen Verbündeter der Rauch ist. Pfeile mit Mixtur sollten mit äußerster Sorgfalt behandelt werden. Der Mann, der zu lernen versucht, muß sich selbst durch ein hartes, stilles Leben vorbereiten. Seine Auswirkungen sind so furchtbar, daß nur ein sehr starker Mann den kleinsten Zug vertragen kann. Alles ist am Anfang recht erschreckend und verwirrend, aber jeder weitere Zug macht die Dinge klarer. Und plötzlich öffnet sich die Welt neu! Unvorstellbar! Wenn dies eintritt, ist der Rauch zum Verbündeten geworden und wird jede Frage lösen, indem er die Tür zu unvorstellbaren Welten öffnet.“ (Castaneda, C.: Die Lehren des Don Juan, a. a. 0., S. 569)

Drei Jahre, nachdem Carlos Don Juan kennengelernt hatte, durfte er das Teufelskraut zum ersten Mal probieren. Es hatte lange gedauert, bis Carlos lernte, mit der Wurzel umzugehen. Die ungeheure Macht, die ihr zugeschrieben wird, verlangt auch eine äußerst komplizierte und vorsichtige Behandlungsart. Carlos muß auch seine eigene Pflanze besitzen, indem er an einem nur ihm bekannten Ort einen Trieb einpflanzt. In dem Versuch mit dem Teufelskraut benutzte Don Juan als eine Art Medium zwei Eidechsen, die er dadurch besonders kennzeichnete, daß er einer den Mund und der anderen die Augen zunähte. In einer Vision erhält Carlos als Antwort auf eine Frage, die er den Eidechsen gestellt hatte, Informationen über eine Angelegenheit, die an seiner heimatlichen Universität geschehen war. Dort waren vor einiger Zeit aus der Bibliothek einige Bücher abhanden gekommen, und er sieht nun in einer Szene, wie ein ihm unbekannter Mann mit einem Sack voll Bücher aus einem Raum herauskommt, diesen wegträgt und vertauscht. Ein zweiter Versuch verläuft schon weniger harmlos. Carlos hat das Gefühl zu fliegen und findet sich nach dem Aufwachen etwa eine halbe Meile von dem Ort entfernt, wo er sich zuletzt aufhielt. Don Juan meint, daß dies erst der Anfang sei. Wenn man das Kraut öfter nehme, könne man Hunderte von Meilen durch die Luft jagen oder seinen Feinden in der Ferne einen tödlichen Schlag versetzen.

Nach einem Erlebnis mit der Rauchmixtur, das ihm das Gefühl gibt, seinen Verstand zu verlieren, versucht es Carlos noch einmal mit Peyote. Im Rahmen einer Zeremonie, die mit mehreren Indianern an vier aufeinanderfolgenden Tagen abgehalten wurde, an denen tagsüber gesungen und nachts Peyote gegessen wurde, begegnet er wieder Mescalito, lernt von ihm Lieder, hört seinen Namen und fühlt sich wie neugeboren. „In diesem Augenblick fühlte ich, wie mich eine große Woge der Weisheit verschlang. Eine Mutmaßung, mit der ich drei Jahre lang gespielt hatte, wurde jetzt zur Gewißheit. Ich hatte drei Jahre gebraucht, um zu erkennen oder vielmehr herauszufinden, daß, was immer in dem Kaktus Lophophora williamsii enthalten sein mochte, unabhängig von mir als Wesen existierte; es existierte dort draußen aus sich selbst, als ein Ganzes. Jetzt wußte ich es. Ich sang fieberhaft, bis ich die Worte nicht mehr länger aussprechen konnte. Mir war, als existierten die Lieder in meinem Körper und erschütterten mich unbändig. Ich mußte hinausgehen und Mescalito finden, oder ich würde zerspringen. Ich ging auf das Peyote Feld zu. Ich sang weiter meine Lieder. Ich wußte, sie gehörten alleine mir der unzweifelhafte Beweis meiner Individualität. Ich spürte jeden meiner Schritte. Und sie hallten auf dem Boden wider. Ihr Echo rief das unbeschreibliche Glücksgefühl hervor, ein Mensch zu sein. Jede der Peyote Pflanzen auf dem Feld leuchtete in einem blauen funkelnden Licht. Eine Pflanze hatte ein sehr helles Licht. Ich setzte mich vor sie und sang ihr meine Lieder. Und während ich sang, kam Mescahto aus der Pflanze dieselbe menschenähnliche Gestalt, die ich zuvor gesehen hatte. Er sah mich an. Mit großem Mut, gemessen an meinem Temperament, sang ich zu ihm. Ich hörte Klänge von Flöten oder von Winden, es war eine vertraute Klangvibration. Er schien wie vor zwei Jahren gesagt zu haben: „Was willst du?“ Ich sprach sehr laut. Ich sagte, daß ich wüßte, daß etwas in meinem Leben und meinen Handlungen nicht in Ordnung sei, aber ich könnte nicht herausfinden, was es sei. Ich flehte ihn an, mir zu sagen, was mit mir nicht stimmte, und ich bat ihn, mir seinen Namen zu sagen, so daß ich ihn rufen könnte, wenn ich ihn brauchte. Er sah mich an, dehnte seinen Mund wie eine Trompete bis an mein Ohr und sagte mir dann seinen Namen. Plötzlich sah ich meinen eigenen Vater in der Mitte des Peyote Feldes stehen, aber das Feld war verschwunden, und das Bild war mein altes Zuhause, das Zuhause meiner Kindheit. Vater und ich standen an einem Feigenbaum. Ich umarmte meinen Vater und begann ihm hastig Dinge zu erzählen, die ich nie zuvor hatte sagen können. Jeder meiner Gedanken war prägnant und genau. Es war als hätten wir wirklich keine Zeit und ich müßte alles auf einmal sagen. Und ich sagte phantastische Dinge über meine Gefühle zu ihm, Dinge, die ich unter gewöhnlichen Umständen niemals hätte aussprechen können. Mein Vater sprach nicht. Er hörte nur zu und wurde dann gezogen oder fortgezogen. Ich war wieder allein. Ich weinte vor Reue und Traurigkeit. Ich ging durch das Peyote Feld und rief den Namen, den Mescalito mich gelehrt hatte. Etwas tauchte aus einem seltsamen, sternförmigen Licht einer Peyote Pflanze auf. Es war ein langes, glänzendes Objekt ein leuchtender Lichtstab in der Größe eines Mannes. Einen Augenblick lang erleuchtete er das ganze Feld in einem starken, gelblichen bernsteinfarbenen Licht, dann erleuchtete er den ganzen Himmel darüber zu einem gewaltigen herrlichen Anblick. Ich dachte, ich würde erblinden, wenn ich es weiter ansah. Ich bedeckte meine Augen und vergrub meinen Kopf in meinen Armen.“ (Castaneda, C.: Die Lehren des Don Juan, a. a. 0., S. 120)

Carlos verliert jetzt einen Teil seiner Hemmungen und versucht dreimal den Rauch. Beim dritten Mal verwandelt er sich in eine Krähe. Er spürt förmlich, wie ihm Flügel und Schnabel wachsen. Auch die Augen verändern sich. Die Ansicht des Raumes wird ungewöhnlich. Don Juan erscheint als leuchtendes Wesen. „Jeder Teil seines Gesichts bewegte sich allein und strahlte eine Art bernsteinfarbenes Licht aus.“ (Castaneda, C.: Die Lehren des Don Juan, a. a. 0., S. 138)

Dann hat er das Gefühl, daß ihn Don Juan hochwirft und fortschleudert. Die weiteren Erlebnisse bleiben ihm nur unscharf im Gedächtnis. Er fliegt mit anderen Vögeln und fühlt sich von einer dunklen Masse mit unzähligen Nadellöchern angezogen. Auf jeden Fall dauert der Versuch drei Tage, bis Don Juan ihn findet und zurückholen kann.

Anschließend hat Carlos immer häufiger Erlebnisse nichtalltäglicher Wirklichkeit; wenn er ein Flugzeug hört, hat er das Gefühl hinterherzufliegen. Das beunruhigt ihn sehr, und er bekommt Angst. Don Juan erklärt ihm, daß er offensichtlich seine Seele verloren habe und daß irgendwer darauf aus sei, ihn zu töten. Nachts wird Carlos von jemandem angesprochen, der so tut, als ob er Don Juan wäre, sich aber anders verhält und ihn offensichtlich von der Kraftstelle fortlocken will, auf der sich Carlos befindet und die ihn beschützt. Als der Fremde ihn mehrmals fast berührt, nimmt er: seine Kampfhaltung ein, stößt schließlich einen Kriegsschrei aus, den Don Juan ihm gelehrt hat. Dieser Kraftschrei verdrängt die seltsame Gestalt, die im Morgengrauen wie ein Hund aussieht, und Carlos ist befreit. Don Juan erklärt ihm den Vorgang als einen Kampf mit einer Hexe, einer sogenannten Schwarz Magierin, die aus einer anderen Welt stammt, in der das Einfangen von Seelen eine Art Sport ist. Der Rauch hat Carlos offensichtlich einen Zugang zu dieser anderen Welt verschafft, in der es von Hexen, Zauberern, Geistern und Verbündeten wimmelt. Mit diesem Erlebnis beendet Carlos den ersten Teil seiner Lehrzeit und kehrt mit dem festen Vorsatz, damit Schluß zu machen, nach Los Angeles zurück.

8.4 Was ist ein Wissender?

In seinem dritten Band berichtet Carlos, daß er zunächst angenommen hatte, ein Zauberer sei hauptsächlich auf den Gebrauch psychotroper Pflanzen angewiesen. Dies habe sich aber im nachhinein als falsch erwiesen. Für Don Juan ist die Verwendung von Kraftpflanzen nur ein Weg unter Millionen, den Durchgang zur anderen Welt zu finden.

Entscheidend ist für ihn, daß es ein Weg mit Herz ist. Im gleichen Sinne definiert er den Wissenden als einen Mann, der ehrlich die Mühen des Lernenden auf sich genommen hat, und er fügt hinzu, daß ein Wissender sich nur dann so nennen darf, wenn er seine vier natürlichen Feinde besiegt hat. Der erste Feind eines Wissenden ist die Furcht. Um die Furcht zu überwinden, darf man nicht weglaufen, sondern man muß stehenbleiben und ihr trotzen. Dann wird sie eines Tages von selbst schwinden, und der Lernende wird an Sicherheit und Klarheit gewinnen.

Die Klarheit seiner Gedanken vertreibt die Furcht, aber sie macht auch blind. Seine Selbstsicherheit verhindert, daß er das Bedürfnis behält, weiter zu lernen. Er bleibt zwar Zeit seines Lebens ohne Furcht, aber auch gleichgültig und lernunfähig. Wenn er aber erkennt, daß seine Klarheit im Hinblick auf seine Weiterentwicklung fast ein Fehler und eher ein »Punkt vor seinen Augen« ist, dann hat er seinen zweiten Feind besiegt und gewinnt Macht, mit der er all seine Wünsche befriedigen und selbst die Verbündeten beherrschen kann. Dieser dritte Feind macht ihn aber auch zu einem grausamen, unberechenbaren Menschen. Er hat keine Gewalt über sich selbst und verliert sich in dem Bestreben, seine Macht zu seinem Nutzen auszuüben. Es gibt nur eine Möglichkeit für ihn, auch diesen Feind zu besiegen. „Er muß sich zu jeder Zeit selbst beherrschen und alles, was er gelernt hat, vorsichtig und ehrlich gebrauchen. Wenn er sieht, daß Klarheit und Macht ohne Selbstbeherrschung schlimmer als Fehler sind, wird er einen Punkt erreichen, wo sich ihm alles fügt. Dann wird er wissen, wann und wie er seine Macht gebraucht.“ (Castaneda, C.: Die Lehren des Don Juan, a. a. 0., S. 73)

Als letzter Feind entpuppt sich das Alter, das er nur bekämpfen, aber nicht völlig schlagen kann. Wenn ein Mann keine Furcht mehr kennt, keine ungeduldige Klarheit der Gedanken, seine Macht beherrscht, dann verlangt es ihn nach Ruhe. Wenn er dieser Müdigkeit nachgibt, wird er den lebenslangen Kampf und die Errungenschaften verlieren. Schüttelt er seine Müdigkeit ab und lebt sein Schicksal erhobenen Hauptes zu Ende, kann er ein Wissender werden.

In seiner strukturellen Analyse im Anschluß an den Bericht im ersten Band hat Castaneda den Begriff des Wissenden weiter aufgeschlüsselt. Er glaubt, daß die gesamte Lehre Don Juans darauf abzielt, aus ihm einen Wissenden zu machen, nachdem er durch bestimmte Omen als Schüler ausgewählt wurde. Er hebt hervor, daß ein Wissender zunächst dadurch gekennzeichnet ist, daß er ein Leben lang zu lernen hat, wobei dies ohne Lehrer oder ohne Meister nicht möglich ist. Die Entscheidung darüber, was zu welchem Zeitpunkt zu lernen ist, entnimmt der Lehrer der Regel und schicksalshaften Zeichen, die ein Ausdruck der über allem stehenden lenkenden Kraft sind. Als wesentliches Motiv braucht der Lernende einen unbeugsamen Willen, den festen Vorsatz, unter keinen Umständen gegenüber Widrigkeiten aufzugeben und sich höchsten Anstrengungen auszusetzen. Wirksam wird dieser Wille erst, wenn die Aktivitäten aus tiefster Überzeugung unternommen werden. Weiterhin benötigt ein Wissender Selbstvertrauen und vor allem Selbstdisziplin, um persönliche Interessen auf ein Minimum zu reduzieren und sich ganz der jeweiligen Aufgabe widmen zu können.

Ein unentbehrlicher Begleiter für den Wissenden ist der Verbündete, der als gestaltloses Wesen bezeichnet wird und sozusagen als Helfer oder Vermittler aus der anderen Wirklichkeit auftritt. Im Falle des Teufelskrauts wird der ihm Verbündete als besitzergreifend, leidenschaftlich, unberechenbar und schädlich betrachtet. Dieses als weiberähnlich bezeichnete Verhalten steht im Gegensatz zu dem Verbündeten des kleinen Rauchs, der mannähnlich und als Spender von Ekstase auftritt. Die letztgenannte Eigenschaft deutet darauf hin, daß der kleine Rauch einen speziellen Zustand der Körperlosigkeit herbeiführt, der ekstatisch wirken kann und dem Lernenden die Fesseln seiner alltäglichen Wirklichkeit abstreift. Zähmen kann man die Verbündeten, wenn man sie getreu der überlieferten Regel behandelt, die jeden einzelnen Schritt unabänderlich vorgibt.

Um mit den Verbündeten zusammenzukommen, bedarf es natürlich des angemessenen Gebrauchs der Pflanzen. „Dennoch deutete Don Juan an, daß in einem bestimmten vorgerückten Stadium des Lernens die Zusammenkünfte ohne den Gebrauch der Pflanze stattfinden, d.h. alleine durch den Willensakt hervorgerufen werden können.“ Im Gegensatz zu diesen herkömmlichen Verbündeten steht Mescalito, der zwar gemeinsam mit einer bestimmten Pflanze wirkt, aber auch ohne Befolgung einer komplizierten Regel erscheint und gelegentlich den Lernenden an die Grenzen seiner Wirklichkeit trägt. Mescalito war auch ein Lehrer, ein Wegweiser zum richtigen Verhalten und zeichnete sich vor allem durch unbeugsame Moral aus.

8.5 Die Wirklichkeit des Kriegers

„Nach der Vervollkommnung des Kriegergeistes zu streben, ist für uns Menschen die einzige würdige Aufgabe“, sagt Don Juan (Castaneda, C.: Reise nach Ixtlan, a. a. 0., S. 111).

Wie sieht dieser Kriegergeist aus?

Ein Krieger ist auf dem Weg zum Wissen, und deshalb ist es seine erste und wichtige Aufgabe, makellos zu sein. Makellos zu handeln heißt, sein Bestes zu tun.

Auf den Einwand von Carlos, daß er glaube, sein Bestes zu tun, aber dies offensichtlich doch nicht genug sei, antwortet Don Juan: »Es ist nicht so kompliziert, wie du es darstellst. Der Schlüssel zu all diesen Fragen nach der Makellosigkeit ist das Gefühl, Zeit zu haben oder keine Zeit zu haben. Als Faustregel mag gelten: Wenn du dich wie ein unsterbliches Wesen fühlst, das alle Zeit auf Erden hat und dementsprechend handelst, dann bist du nicht makellos. In solchen Momenten solltest du dich umdrehen, in die Runde schauen, dann wirst du erkennen, daß dein Gefühl, Zeit zu haben, töricht ist. Auf dieser Erde gibt es keine Überlebenden!“ (Castaneda, C.: Der Ring der Kraft, S. Fischer, Frankfurt/ M. 1974, S. 216)

Das Bewußtsein, keine Zeit zu haben, impliziert auch das Wissen, daß der Tod uns ständig begleitet und daß ein Krieger ihn als Ratgeber benutzt. Aber nicht nur vor dem allgegenwärtigen Tod, sondern eigentlich vor allem hat ein Krieger Respekt. Er akzeptiert demütig sein Schicksal, doch seine Demut ist nicht zu vergleichen mit der Demut eines Bettlers. „Der Krieger beugt den Kopf vor niemandem, aber gleichzeitig erlaubt er es auch keinem anderen, den Kopf vor ihm zu beugen. Der Bettler fällt hingegen bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit auf die Knie und leckt jedem, den er für höher erachtet als sich selbst, die Stiefel; zugleich aber erwartet er, daß ein geringerer als er, ihm die Stiefel leckt.“ (Castaneda, C.: Der Ring der Kraft, a. a. 0., S. 27)

Ein Krieger jagt nach Kraft und speichert sie als persönlichen Besitz. Dabei kämpft er voll makelloser Selbstbeherrschung, ist bescheiden und wachsam, benötigt keine Hilfe, verliert niemals die Nerven und handelt, als wüßte er, was er tut, auch wenn er es in Wirklichkeit nicht weiß.

Zu Carlos sagt Don Juan in diesem Zusammenhang: „Es gibt dreierlei schlechte Gewohnheiten, in die wir immer wieder verfallen, sobald wir im Leben mit ungewöhnlichen Situationen konfrontiert sind. Erstens können wir das, was geschieht oder geschehen ist, leugnen und so tun, als wäre es nie geschehen. So machen es die Bigotten. Zweitens können wir alles unbesehen akzeptieren und so tun, als wüßten wir, was geschieht. So machen es die Frommen. Drittens kann ein Ereignis uns beschäftigen, weil wir es weder leugnen noch rückhaltlos akzeptieren können. So machen es die Narren. Du etwa auch? Doch es gibt noch eine vierte Möglichkeit, die richtige nämlich, die des Kriegers. Ein Krieger handelt so, als sei überhaupt nichts geschehen, weil er an gar nichts glaubt, doch akzeptiert er alles unbesehen. Er akzeptiert, ohne zu akzeptieren, und leugnet, ohne zu leugnen. Nie tut er so” als wisse er, noch tut er so, als sei nichts geschehen. Er handelt so, als ob er die Situation in der Hand hätte, auch wenn ihm leicht die Hosen schlottern. Diese Art zu handeln vertreibt die zwanghafte Beschäftigung mit den Dingen.“(Castaneda, C.: Der Ring der Kraft, a. a. 0., S. 62)

Typisch für diese ambivalente Einstellung ist auch die Stimmung eines Kriegers. Sie bedeutet gleichzeitig, sich zusammennehmen und sich gehenlassen im Sinne von Selbstvergessenheit. Für jede Handlung braucht der Krieger diese Stimmung. Irn Zusammenhang damit steht eine der wichtigsten Prämissen: handeln, ohne Belohnung zu erwarten. Don Juan bringt Carlos mit einem Trick dazu, diese Technik zu beherrschen, indem er das Wesentliche seiner Lehren als scheinbar Nebensächliches einführt und anderes wiederum hervorhebt. Ein Krieger braucht Geduld bei allem, was er tut, besonders wenn er auf die Entwicklung seines Willens wartet. Dabei wird der Wille von Don Juan als eine Macht in uns bezeichnet, die wir mit Gedanken und Wünschen nicht beeinflussen können. „Dein Wille ist das, was bewirkt, daß du gewinnen kannst, wenn dein Denken dir sagt, daß du besiegt bist.“ (Castaneda, C.: Eine andere Wirklichkeit, S. Fischer, Frankfurt/M. 1973, S.126)

Ein zentraler Punkt in den Lehren des Don Juan ist das Nicht Tun. Unter Tun bezeichnet er das, was wir im allgemeinen machen. Ob wir nun einen prächtigen Baum bewundern, einem Konzert lauschen, uns über unsere Nachbarn ärgern, genußvoll eine Mahlzeit zu uns nehmen alles das ist Tun, die Beschreibung unserer Welt mit Wertvorgaben, Normen und Einstellungen. Indem wir tun, halten wir diese Welt aufrecht, am Leben, ohne uns bewußt zu sein, daß dies nur eine mögliche Form der Beschreibung ist. Don Juan nimmt einen Kieselstein in die Hand und sagt, daß es Tun wäre, wenn ihn Carlos wegen seiner Bedeutungslosigkeit achtlos liegenlassen würde. Nicht Tun wäre es, wenn er ihm Beachtung schenken und ihn sich genauer ansehen würde. Als Wissender könnte er dann sehen, daß sich der Stein unter seiner Anteilnahme in etwas recht Abstoßendes verwandeln würde. Auf die Frage, ob dies wahr wäre, erhält Carlos die Antwort: „Würde ich auf deine Frage mit Ja oder Nein antworten, so wäre das Tun. Aber da du das Nicht Tun lernen sollst, muß ich dir sagen, daß es in Wirklichkeit ganz gleichgültig ist, ob es wahr ist oder nicht. Genau das ist ja ein Vorsprung, den ein Krieger gegenüber dem Durchschnittsmenschen hat. Ein Durchschnittsmensch sorgt sich darum, ob die Dinge wahr oder falsch sind. Ein Krieger aber tut das nicht. Ein Durchschnittsmensch verhält sich in einer bestimmten Weise zu Dingen, von denen er weiß, daß sie wahr sind, und in einer anderen Weise zu Dingen, von denen er weiß, daß sie nicht wahr sind. Wenn Dinge als wahr gelten, dann handelt er und glaubt an das, was er tut. Aber wenn die Dinge als unwahr gelten, dann macht er sich nicht die Mühe, zu handeln, oder er glaubt nicht an das, was er tut. Ein „Krieger hingegen handelt in beiden Fällen. Wenn die Dinge als wahr gelten, dann handelt er, um zu tun. Wenn die Dinge als unwahr gelten, dann handelt er trotzdem, um Nichts-zu-tun.“ (Castaneda, C.: Eine Reise nach Ixtlan, a. a. 0., S. 184)

Tun ist auch unser inneres Gespräch, das wir ständig halten, um damit uns selbst im Gleichgewicht mit der Welt zu halten. Sobald der Krieger aufhört, mit sich selbst zu sprechen, verändert sich die Welt. Sobald er aufhört zu sagen, daß die Welt so und so ist, hört sie auf so und so zu sein, und das kann ein schockartiges Erlebnis sein. Die Welt hält an, bricht zusammen und baut sich wieder auf. Denn die Welt ist voller Wunder, voll Geheimnisse, die wir niemals enträtseln werden, sagt Don Juan.

Wichtig ist, daß ein Krieger seinen Weg mit Herz geht, das heißt auf seinem Weg Frieden und Freude findet. Dann wird auch er lernen, die Dinge der Welt richtig einzuordnen, und er wird wissen, daß die Welt ein unendliches Wunder ist und das, was der Durchschnitts-mensch tut, eine endlose Torheit ist. In diesem Sinne kann die Lebensart eines Kriegers auch als Weg der Harmonie bezeichnet werden, als Harmonie zwischen Handlungen und Entscheidungen oder zwischen positiven und negativen Kräften.

Die Herausforderung eines Kriegers ist, ein sehr empfindliches Gleichgewicht der positiven und negativen Kräfte zu erreichen. Dabei kommt es darauf an, danach zu streben, jeder vorstellbaren Situation mit gleicher Tüchtigkeit zu begegnen. Wer nur unter vollkommenen Bedingungen vollkommen sei, der sei nur ein Papierkrieger. Unbedingt notwendig ist das ständige Bemühen des Kriegers, sich zu ändern; die menschliche Form, in der er seit seiner Kindheit gefangen ist, abzuschütteln. Nach Jahren des makellosen Lebens erreicht der Krieger einen Punkt, an dem die Form es nicht mehr länger aushält und ihn verläßt. Anschließend hat der Krieger nicht mehr die Kraft, sein altes Selbst zu sein, seine alten Gewohnheiten aufzunehmen, er hat sich losgelöst, er wird ein neuer Mensch. Eine der schmerzlichsten Forderungen ist der Verzicht auf sexuelle Betätigung. Ein Krieger muß alles vermeiden, was ihn schwächt, und deshalb hat er ein enthaltsames Leben in strikter Keuschheit zu führen (Castaneda, C.: Die Kunst des Pirschens, a. a. 0., S. 118).

8.6 Die Kunst des PIRSCHENS und des TRÄUMENS

In dem vorletzten Band beschreibt Castaneda die Kunst des Pirschens, die neben dem Träumen ein komplexes Handlungssystem bildet, das offensichtlich für fortgeschrittene Krieger gilt. Er unterscheidet zwischen sieben Prinzipien des Pirschens, drei Prinzipien der Regel für den Pirscher und drei Manöver des Pirschens.

Während das Pirschen eine Tätigkeit der ersten Aufmerksamkeit ist, also unserer alltäglichen Welt, gehört das Träumen zur zweiten Aufmerksamkeit, die sich auf die andere Wirklichkeit bezieht. Die Regel besagt, daß alles um uns herum ein unergründliches Geheimnis ist und daß ein Krieger versuchen muß, dieses Geheimnis zu enträtseln, doch ohne die Hoffnung (Meister Ekkard!), daß es ihm je gelingen wird. Wenn ein Krieger sich so verhält, dann nimmt er seinen rechtmäßigen Platz unter diesen Geheimnissen ein und wird selbst ein Mysterium, genauso wie ein Kiesel oder eine Ameise. In diesem Sinne stellt er sich allen andern gleich, und dies bezeichnet Don Juan als die Demut eines Kriegers.

Für einen Pirscher ist die Welt ein Schlachtfeld, und deshalb fordert das erste Prinzip, daß sich ein Pirscher das Schlachtfeld, den Ort seines Kampfes, selbst wählt und nicht von anderen vorschreiben läßt. Der konzentrierte Einsatz seiner Kräfte (3. Prinzip), denn schließlich könnte jeder Kampf der letzte sein, erfordert, daß alles Unnötige unterlassen wird (2. Prinzip). Stößt der Krieger unerwartet auf Schwierigkeiten, dann sollte er sich zunächst zurück-ziehen und mit anderen Dingen beschäftigen (4. Prinzip). Vor allem sollte er sich entspannen, locker, aber doch konzentriert sein. Nur so wird die Kraft, die ihn leitet, ihn ans Ziel bringen (5. Prinzip). Trotzdem hat er die Aufgabe, in seinem Kampf um Leben und Tod die Zeit zu verdichten. Jeder Augenblick zählt. Ein Krieger vergeudet keine Zeit (6. Prinzip). Das letzte und wichtigste Prinzip besagt, daß ein Pirscher sich niemals in den Vordergrund stellt. Er ist der Mann oder die Frau hinter den Kulissen, der die Regie führt, ohne als solcher erkannt zu werden (Castaneda, C.: Die Kunst des Pirschens, a. a. 0., S. 298).

Auf dem Weg zur Kraft gibt es neben dem Auslöschen der persönlichen Geschichte und den anderen genannten Verhaltensweisen noch ein weiteres Mittel, das dabei hilft, die Aufmerksamkeit auf die andere Wirklichkeit zu richten. Es handelt sich um das Träumen, wobei sich dieses Träumen von dem alltäglichen Träumen wesentlich unterscheidet. Das Träumen ist sozusagen das Nicht Tun des Träumens bzw. des normalen Schlafes. Während wir normalerweise im Traum mehr oder weniger bewußtlos und vor allem machtlos das Geschehen über uns ergehen lassen müssen, lernt ein Krieger im Traum gezielt handeln. Für ihn öffnet sich damit eine neue Welt, die zwar phantastisch ist, aber dennoch Anspruch auf Realität hat.

„Das Träumen ist für einen Krieger wirklich, denn er kann darin gezielt handeln, er kann das eine wählen und das andere verwerfen, er kann aus einer Vielzahl von Dingen diejenigen auswählen, die zur Kraft führen, und er kann sie manipulieren und benutzen, während er in einem normalen Traum nicht gezielt handeln kann.“ (Castaneda, C.: Reise nach Ixtlan, a. a. 0., S. 96)

Beim Träumen helfen drei Techniken: Unterbrechen der Lebensroutine, Nicht Tun und die Gangart der Kraft. Letztere ist eine besondere Art, sich im Dunkeln schnell zu bewegen. Die Beine werden dabei fast bis zur Brust angehoben, während das Rückgrat durchgestreckt ist. Als zentraler Punkt des Nicht Tuns wurde schon die Einstellung des inneren Dialogs genannt, das sogenannte Anhalten der Welt, das das Träumen dadurch unterstützt, indem es dem Praktiker die notwendige Ruhe verleiht, um seine Träume zu kontrollieren.

Aber auch alle anderen Spielarten des Nicht Tuns sind geeignet, das Träumen zu fördern. Einer der Weggenossen von Carlos übte sich beispielsweise im Rückwärtsgehen, indem er einen Rückspiegel baute und an seinem Kopf befestigte, so daß er in der Lage war, kilometerweit rückwärts zu gehen. Um die Einstellung des inneren Gesprächs zu erreichen, ließ Don Juan seine Krieger stundenlang einen Haufen trockenen Laubs anstarren bzw. „angaffen“, bis die Gedanken verschwanden und die Aufmerksamkeit sich als sogenannte 2. Aufmerksamkeit auf die andere Wirklichkeit einstellte. Ein Vorgang, der von den Adepten Don Juans jahrelang bis zum Erfolg geübt wurde.

Mit der Aufmerksamkeit hat es in Don Juans Lehren eine besondere Bewandtnis: „Der Kern unseres Wesens, so hatte Don Juan gesagt, sei der Akt der Wahrnehmung, und die Magie unseres Daseins sei der Akt der Bewußtheit. Für ihn bildeten Wahrnehmung und Bewußtheit eine einzige funktionale, unauflösliche Einheit eine Einheit von zwei Bereichen. Der eine war die Aufmerksamkeit für das Tonal“; d.h. die Fähigkeit des normalen Menschen, wahrzunehmen und sein Bewußtsein auf die gewöhnliche Welt des alltäglichen Lebens zu richten. Diese Art Aufmerksamkeit hatte Don Juan auch unseren >ersten Ring der Kraft< genannt; dies, wie er sagte, sei unsere wunderbare, obgleich für selbstverständlich gehaltene Fähigkeit, Ordnung in unsere Wahrnehmung unserer Welt zu bringen. Der zweite Bereich war die >Aufmerksamkeit für das Nagual<; d. h. die Fähigkeit der Zauberer, ihr Bewußtsein auf die außerordentliche andere Welt zu richten. Diesen Bereich der Aufmerksamkeit nannte er >zweiten Ring der Kraffi; er bezeichnete sie als jene ungeheure Fähigkeit, Ordnung in die Welt des Außergewöhnlichen zu bringen, die uns allen eigen ist, die aber nur die Zauberer einsetzen.“ (Castaneda, C.: Der zweite Ring der Kraft, S. Fischer, Frankfurt/M. 1978, S. 254)

Wahrscheinlich ist es so, vermutet Castaneda, daß wir Normalmenschen unsere Aufmerksamkeit dauernd auf beide Bereiche projizieren und nur durch Lernen oder Erfahrung daran gewöhnt sind, die eine des Tonals, also unserer alltäglichen Welt, isoliert im Gedächtnis zu behalten und die andere auszuschalten, zumindest nicht bewußt wahrzunehmen.

Die Kunst des Kriegers und speziell des Träumers ist es, die Aufmerksamkeit für das Nagual (andere Wirklichkeit) zu wecken und bewußt zu machen. Er kann dies, indem er im Träumen die Bilder genauso festhält und manipuliert, wie wir im Alltäglichen die Welt erkennen und beeinflussen. Das Anhalten der Welt bedeutet deshalb, daß der Krieger seine Aufmerksamkeit für das Tonal aufgibt, worauf die alltägliche Welt zusammenbricht und damit der Weg für die Wahrnehmung des Nagual frei wird.

Erfolge beim Träumen stellen sich freilich erst ein, wenn es dem Krieger gelingt, Kontrolle über seine Alltagswelt zu bekommen. Entscheidend ist die Makellosigkeit und damit die Mäßigung und Kraft eines Kriegers, seine Standhaftigkeit und Nüchternheit.

Wie sieht das Träumen nun im einzelnen aus? Zunächst einmal zur Haltung beim Träumen. Die beste Haltung ist der aufrechte Sitz mit aneinander gelegten Fußsohlen und auf den Boden gedrückten Schenkeln. Anfangs hatte Carlos allerdings auch in Rückenlage Erfolg, bis ihn Don Juan verbesserte. Die beste Zeit sind die späten Abend und die frühen Morgenstunden, weil dann die physische Aufmerksamkeit der anderen Menschen, die uns normalerweise umgeben, am geringsten ist. Don Juan hielt Einsamkeit und Isolation deshalb nicht für ideal, weil nach seiner Meinung die Aufmerksamkeit unserer Mitmenschen sich auch an dem isoliertesten Ort nicht aus-schließen lasse. Um das Träumen auszulösen, kann sich der Mann auf die Spitze seines Brustbeins konzentrieren, die Frau auf den Uterus. Die Aufmerksamkeit für das Träumen entstammt dieser Region, während die Energie für die Fortbewegung im Traum aus der Nähe des Nabels kommt.

Carlos unterscheidet vier Stufen des Träumens. Die erste nennt er ruhige Wachsamkeit, ein Zustand, in dem „die Sinne einschlafen und man doch bewußt ist. In meinem Fall hatte ich diesen Zustand stets als Fluten rötlichen Lichts empfunden ein Licht genauso wie jenes, das man sieht, wenn man mit fest geschlossenen Augenlidern in die Sonne blickt“ (Castaneda, C.: Die Kunst des Pirschens, a. a. 0., S. 134).

Im zweiten Zustand, der dynamischen Wachsamkeit, verflüchtigt sich das rötliche Licht, und man erblickt eine Szene, irgendein dreidimensionales Bild, eine Landschaft, Personen oder ähnliches. Er erlebt sich dabei als passiven Beobachter eines Ereignisses (3. Zustand), das primär seinen Gesichts und Gehörsinn anspricht. Im vierten Zustand fühlt sich Carlos zum Handeln gedrängt. Deshalb nennt er diesen Zustand auch „dynamische Initiative“.

Diese zuletzt genannte aktive Betätigung im Träumen bezeichnet Don Juan auch als das Arrangieren von Träumen. Seine Empfehlung für den Anfang des Träumens lautet: Richte im Traum den Blick auf deine Hände, schaue danach kurz weitere Gegenstände an, bis sie verschwimmen, und blicke dann wieder auf deine Hände. „Jedesmal, wenn du die Hände ansiehst, erneuerst du die Kraft, die zum Träumen nötig ist. Daher schau anfangs nicht zu viele Dinge an. Vier Gegenstände auf einmal sind genug. Später magst du den Gesichtskreis erweitern, bis du mit dem Blick erfassen kannst, soviel du willst; aber sobald die Bilder anfangen, sich zu verändern, und du spürst, daß du die Kontrolle verlierst, kehr zu deinen Händen zurück.“ (Castaneda, C.: Reise nach Ixtlan, a. a. 0., S. 114)

So einfach sich diese Anweisung anhört, so schwierig ist, sie zu verwirklichen. Carlos und seine Freunde haben jeweils Jahre dafür gebraucht, bis sie in der Lage waren, ihre Hände im Traum zu finden. Wenn die Traumgegend genügend durch den konzentrierten Blick unter Kontrolle gebracht wurde, ist der nächste Schritt, sich an beliebige Orte zu versetzen. Dieses Reisen im Träumen muß aber nach Möglichkeit mit der Zeit übereinstimmen, in der der Krieger träumt. Also nachts ist es in der Traumgegend auch dunkel und tagsüber hell. Es fällt leichter, im Träumen zu reisen, wenn man sich an einen bestimmten Ort erinnert. Don Juan empfiehlt sogenannte Plätze der Kraft, an die der Krieger in angenehmer Weise zurückdenkt bzw. wo er sich oft aufhält.

Eine wichtige Stufe des Träumens besteht darin, das andere Selbst zu finden. Es handelt sich hierbei um einen Doppelgänger; das heißt um ein Traumwesen, das eine exakte Kopie des Träumers selbst ist. Dieser Traumkörper ist „im wesentlichen die Energie eines leuchtenden Wesens, eine weißliche, geisterhafte Emanation, die durch die Fixierung der zweiten Aufmerksamkeit als ein dreidimensionales Bild des Körpers projiziert wird. Don Juan erklärte, daß der Traumkörper kein Gespenst sei, sondern ebenso wirklich wie alles, womit wir es in der Welt zu tun haben.“ (Castaneda, C.: Die Kunst des Pirschens, a. a. 0., S . 27)

Eine bestimmte Technik, diese Stufe zu erreichen, gibt es nicht. Es kommt lediglich darauf an, die Aufmerksamkeit für das Nagual durch die beschriebenen Übungen und Einstellungen während des alltäglichen Lebens zu schärfen.

Eines Tages träumt der Krieger dann von seinem anderen Selbst. Don Genaro, der Wohltäter von Carlos, einer der Leitfiguren des gesamten Berichts von Castaneda, erzählt von seiner ersten Begegnung mit dem anderen Selbst: „Als es mir zum erstenmal passierte, wußte ich nicht, daß es geschehen war. Eines Tages sammelte ich Kräuter im Gebirge. Ich war zu einer Stelle gegangen, die bereits von anderen Kräutersammlern abgesucht war. Ich hatte zwei große Säcke voll Kräuter bei mir. Ich war bereit, nach Hause zu gehen, aber vorher wollte ich noch eine kurze Rast machen. Ich legte mich am Wegrand in den Schatten eines Baumes und schlief ein. Ich hörte die Stimmen von Menschen, die den Berg herabkamen, und wachte auf. Schnell rannte ich in Deckung und versteckte mich hinter ein paar Büschen, nicht weit von der Straße entfernt, wo ich eingeschlafen war. Dort versteckt, hatte ich das peinigende Gefühl, ich hätte etwas vergessen. Ich schaute nach, ob ich meine Kräutersäcke bei mir hatte. Sie waren nicht da. Ich spähte zu dem Platz hinüber, wo ich geschlafen hatte, und da verlor ich vor Schreck fast die Hosen: Dort lag ich immer noch und schlief! Ich war es! Ich faßte meinen Körper an. Das war ich auch selbst! Inzwischen hatten die Leute, die den Berg hinabkamen, mich, den Schlafenden, erreicht, während ich, der Hellwache, hilflos aus meinem Versteck hervorspähte. Zum Teufel! Gleich würden sie mich entdecken und meine Säcke wegnehmen. Aber sie gingen vorüber, als sei ich gar nicht dagewesen. Meine Vision war so lebhaft, daß ich ganz außer mir geriet. Ich schrie, und dann wachte ich noch einmal auf. Verflucht! Es war ein Traum gewesen!“ (Castaneda, C.: Der Ring der Kraft, a. a. 0., S. 73)

Auch Carlos hatte einen solchen ersten Traum, in dem er sich zu seiner Überraschung schlafend im Bett liegend sah. Nach den Anweisungen von Don Juan ging er aus dem Zimmer, wobei das Gehen äußerst schwierig war. Es erforderte nicht nur eine außergewöhnliche Aufmerksamkeit, vorwärtszukommen, auch die Ansicht der ansonsten gewohnten Umgebung drohte ständig zu verschwimmen, und zu allem Überfluß fühlte er sich so leicht, daß er schon durch einen Windstoß in die Höhe getrieben wurde.

In späteren Träumen lernte er seine Bewegungen zu koordinieren, wobei er feststellte, daß es dabei einzig auf die Willenskraft ankam und physikalische Notwendigkeiten nicht berücksichtigt zu werden brauchten. So konnte er beispielsweise durch eine Wand gehen oder sich lediglich auf seinen Wunsch hin überall hinbegeben. Er besuchte einmal sogar sein Lieblingscafe, in dem er sonst regelmäßig verkehrte, und sah dieselben vertrauten Personen. Nur einer von ihnen schien ihn zu bemerken. Wenige Tage später im Wachzustand traf er denselben Mann in diesem Cafe wieder, der ihm einen erschrockenen Blick zuwarf und davonrannte. Auch Carlos begegnete oft in der alltäglichen Wirklichkeit einem Traumwesen, das ihn mit seltsamen Verhaltensweisen erschreckte. Es war Don Genaro, der offensichtlich ein Meister in dieser Kunst war und beliebig in die „Haut“ seines Doppelgängers schlüpfen und sich materialisieren konnte. Als unkörperliches, geistiges Wesen war er übrigens auch unfähig, zu essen oder zu trinken.

Von dieser Stufe des Träumens ist es dann nicht mehr weit zum Zusammenträumen, das heißt zwei Krieger beschließen, sich im Traum zu treffen und gemeinsam etwas zu erleben. Carlos erlebt dabei mit seiner Begleiterin, la Gorda, eine „getreuliche Kopie dessen, was an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit in unserem Leben wirklich stattgefunden hatte.“ (Castaneda, C.: Die Kunst des Pirschens, a. a. 0., S. 139)

Es war ihnen jedoch nicht möglich festzustellen, wo und wann es war. Erst später nach einer gewissen Übung hilft ihm das Träumen, sich an diese Vorgänge zu erinnern, die verblüffenderweise auf ein Leben derselben Person in einer anderen Wirklichkeit hinweisen. Don Juan spricht sogar davon, daß der Doppelgänger ebenfalls träumen kann und konsequenterweise sein Selbst (also uns) dabei träumt. Was sind wir also, Traum oder Wirklichkeit?

8.6 Das SEHEN des Kriegers

Auf dem Weg zum Wissenden ist die letzte Bastion das Sehen. Dieses Sehen ist mehr als das bloße Schauen, mit dem wir die alltäglichen Dinge um uns herum erkennen. Wenn ein Krieger Sehen lernt, „muß er nicht mehr wie ein Krieger leben oder ein Zauberer sein. Wenn er sehen lernt, wird ein Mann alles, indem er nichts wird. Er verschwindet sozusagen und ist immer noch da. In diesem Moment behaupte ich, kann er alles bekommen und alles sein, was er nur will. Aber er wünscht nichts, und statt mit seinen Mitmenschen zu spielen, als seien sie Spielzeug, teilt er mit ihnen ihre ganze Torheit. Der einzige Unterschied zwischen ihm und ihnen ist, daß ein Sehender seine Torheit kontrolliert, während seine Mitmenschen dies nicht können. Ein Sehender hat kein aktives Interesse mehr an seinen Mitmenschen. Das Sehen hat ihn bereits von allem losgelöst, was er vorher wußte.“ (Castaneda, C.: Eine andere Wirklichkeit, a. a. 0., S. 131)

Sehen hat nur bedingt etwas mit den Augen zu tun. Geräusche und visuelle Wahr-nehmungen können beim Sehen zusammenfallen. Im Gegenteil, die Dunkelheit ist die beste Zeit zum Sehen. Es ist wie ein Blick hinter die Kulissen unserer alltäglichen Welt, in der nur scheinbar die Dinge und Lebewesen ein unveränderliches Aussehen und Ver-halten zeigen. Was sieht nun ein Wissender?

Don Juan beschreibt die Menschen als leuchtende Eier, die aus Lichtfasern bestehen, die zwischen „Kopf und Nabel kreisen“. Arme und Beine sind dabei wie Borsten, die in alle Richtungen abstehen. „Außerdem steht jeder Mensch mit allen anderen Dingen in Berührung, doch nicht durch seine Hände, sondern durch ein Büschel langer Fasern, die aus dem Mittelpunkt seines Leibes sprießen. Diese Fasern verbinden den Menschen mit seiner Umgebung. Sie halten ihn im Gleichgewicht. Sie geben ihm Stabilität. Daher ist der Mensch, wie du eines Tages sehen wirst, gleich ob Bettler oder König, ein leuchtendes Ei, und es ist unmöglich, irgend etwas an ihm zu verändern.“ (Castaneda, C.: Eine andere Wirklichkeit, a. a. 0., S. 23)

Unter dem Eindruck der Rauchmixtur nähert sich Carlos dem Sehen. Statt des „wirklichen“ Gesichts von Don Juan, erblickt er einen runden Gegenstand, der „von innen leuchtet. Alle Einzelheiten darin bewegten sich. Ich erkannte eine gedämpfte, rhythmische Wellenbewegung. Es war, als ob diese Bewegung auf sich selbst beschränkt war und nie über ihre Grenzen hinausgriff, und dennoch strahlt das Objekt vor meinen Augen an jeder Stelle seiner Oberfläche Bewegung aus. Ich dachte daran, daß es Leben ausstrahlte. Tatsächlich war es so lebendig, daß ich ganz davon in Anspruch genommen war, seine Bewegungen zu betrachten. Ich sah eine faszinierende Vibration.“(Castaneda, C.: Eine andere Wirklichkeit, a. a. 0., S. 134)

An anderer Stelle, bei einem weiteren Versuch konzentriert er sich auf eine Stelle, die dem linken Auge Don Juans entspricht.

„Ich stellte fest, daß die Bewegung der Glut dort nicht begrenzt war. Was ich sah, glich explodierenden Funken. Diese Explosionen waren rhythmisch und sandten tatsächlich so etwas wie Lichtpartikel aus, die mit sichtlicher Kraft auf mich zuflogen und dann zurückschnellten, als hingen sie an Gummifäden.“(Castaneda, C.: Eine andere Wirklichkeit, a. a. 0., S. 56)

Viele Jahre später, als fast ausgereifter Krieger, sieht er zusammen mit seiner Gefährtin la Gorda die Menschen als leuchtende Eier. Ihre Bewegungen beschreibt er als steif, hölzern und ruckartig. Ein eigenartiges Zittern, als ob die Bilder eines Films schneller laufen würden, kennzeichnet sie genauso wie die Tatsache, daß diese leuchtenden Eier offensichtlich keine Füße hatten und deshalb scheinbar auf und niederzuckten oder wie Schlittschuhläufer über einen rauhen Untergrund glitten. In Ruhestellung wurden sie länglicher und starr. Obwohl diese Wesen in „Wirklichkeit“ natürliche Menschen waren, hatten sie keine Augen, statt dessen fielen bei einigen in der Körpermitte riesige schwarze Flecken auf. Diese Stellen ohne Leuchtkraft sollen Nachwirkungen der Fort-pflanzung sein, das heißt jedes Kind, das gezeugt und ausgetragen wird, raubt den beteiligten Menschen einen Teil ihrer Leuchtkraft, und sie erschienen nicht nur mit diesen Flecken, sondern wirken auch im Gegensatz zu den unbefleckten Wesen, die strahlend hell und voller Energie sind, welk und alt.

Aus großer Entfernung sehen die Menschen aus wie pilzähnliche Gestalten, die sich kaum noch unterscheiden. Nur ein wirklich starker Zauberer, meint Don Juan, kann überhaupt die Strukturen erklären, die sich in den leuchtenden Eiern zeigen und die auf Wünsche, Leiden, Probleme und Sorgen der einzelnen hinweisen. Vor allem die Fasern, die wie Tentakeln aus dem Körper eines Menschen kommen, deuten auf den Charakter, die Stimmung und seine Absichten hin. Schwache Menschen haben z.B. sehr kurze, beinahe unsichtbare Fasern; starke Menschen dagegen strahlende, lange. An den Fasern kann man auch erkennen, ob ein Mensch sehen kann. Don Genaro ist übrigens ein Meister in der Kunst, seine Tentakel zu gebrauchen. Er hüpft mit ihnen vor den Augen von Don Juan und Carlos, der ihn nicht sieht, über gefährlich glitschige Felsen. Überquert Wasserfälle, springt auf Bäume usw.

8.7 Das Weitbild des Don Juan

Das Weltbild des Don Juan unterscheidet sich grundsätzlich von unserer alltäglichen Erfahrung. Zunächst meint er, daß die Welt, die wir wahrnehmen, eine Illusion ist. Sie ist entstanden durch eine Beschreibung, die man uns seit dem Augenblick unserer Geburt erzählt hat.

Er erwähnt in diesem Zusammenhang den „Ring der Kraft“, der uns seit der Geburt mit dem Tun der Welt verbindet, damit diese Welt entsteht. „Unsere Kraftringe z.B., deiner und meiner, sind jetzt eben an das Tun in diesem Raum angeschlossen. Wir machen diesen Raum. Genau in diesem Augenblick spinnen unsere Ringe der Kraft diesen Raum ins Sein.“(Castaneda, C.: Reise nach Ixtlan, a. a. 0., S. 201)

An anderer Stelle spricht er davon, daß es unsere Gewohnheit sei, die Welt stets in Übereinstimmung mit unseren Gedanken zu sehen. „Wenn sie dies nicht ist, sorgen wir einfach dafür, daß sie übereinstimmt.“ (Castaneda, C.: Reise nach Ixtlan, a. a. 0., S. 30)

Zeit und Raum sind demnach für ihn relative Begriffe. „Um uns herum ist die Ewigkeit“, sagt er zu Carlos, „weißt du, daß du dich in jede Richtung (Ost und West) auf ewig ausdehnen kannst. Weißt du, daß ein Augenblick Ewigkeit sein kann.“ (Castaneda, C.: 160. Der Ring der Kraft, a. a. 0., S. 15) 

Oder an anderer Stelle: „Es gibt keine Zukunft. Die Zukunft das ist nur eine bildliche Redeweise. Für einen Zauberer gibt es nur das Hier und Jetzt.“

Die Unterscheidung zwischen Tonal und Nagual gehört dagegen zu den Säulen der Lehren des Don Juan. In der Erklärung der Zauberer wird das Nagual als das Unaussprechliche bezeichnet, während das Tonal alles das ist, wofür wir Worte haben. Anders ausgedrückt: Das Tonal ist alles, was wir kennen, z.B. Autos, Blumen, Häuser, Menschen, Tiere, Kinder, Physik, Grammatik usw. usw.; das Nagual hingegen ist ein Teil von uns (Don Juan unterscheidet zwischen rechter Hälfte für das Tonal und linker Hälfte von uns für das Nagual), das unbeschreiblich, unzugänglich und trotzdem allgegenwärtig ist. Das Tonal ist wie eine Insel, auf der wir die uns bekannten Dinge und Wesen versammelt haben, während das Nagual den Raum zwischen den Dingen und um die Insel herum füllt. Das Nagual ist wie ein unbekanntes Meer, in dem all die möglichen Gefühle und Wesenheiten und Ichs wie Kähne im Wasser dahinschwimmen, friedlich, unabänderlich, ewig.

„Wenn der Leim des Lebens diese Gefühle zusammenbindet, dann wird ein Wesen geschaffen, ein Wesen, das das Gefühl seiner wahren Natur verliert und sich durch den Glanz und Lärm jener Regionen blenden läßt, in der die Wesen hausen, nämlich das Tonal. Das Tonal ist da, wo einheitliche Organisationen herrschen. Ein Wesen taucht ins Tonal ein, sobald die Kraft des Lebens dazu alle nötigen Gefühle zusammenbindet. Ich sagte dir einmal, daß das Tonal mit der Geburt beginnt und dem Tod endet. Ich sagte dies, weil ich weiß, daß, sobald die Kraft des Lebens den Körper verläßt, alle diese Bewußtseine ich auflösen und wieder dorthin zurückkehren, woher sie kamen, ins Nagual. Was ein Krieger tut, wenn er in das Unbekannte aufbricht, ist ganz ähnlich wie sterben, außer daß das Bündel seiner einstigen Gefühle sich nicht auflöst, sondern diese sich ein wenig ausdehnen, ohne ihren Zusammenhalt zu verlieren. Beim Tod jedoch fallen sie auseinander und bewegen sich unabhängig voneinander, als hätten sie nie eine Einheit gebildet.“ (Castaneda, C.: Der Ring der Kraft, a. a. 0., S. 92)

Carlos erhält die Gelegenheit, eine Reise in das Unbekannte zu unternehmen. Don Juan und Don Genaro hocken sich rechts und links von Carlos und flüstern ihm gleichzeitig ins Ohr. Er fühlt sich gespalten und spürt, daß ihn Don Genaro herumwirbelt. Dabei hat er das ganz bewußte »Gefühl, zu kreiseln oder zu schweben. Als nächstes sauste ich durch die Luft, stürzte ich mit ungeheurer Geschwindigkeit in den Abgrund. Im Fallen spürte ich, daß meine Kleider heruntergerissen wurden, dann fiel mein Fleisch von mir, und schließlich blieb nur noch mein Kopf übrig. Ich hatte die ganz klare Empfindung, daß ich, als mein Körper sich in Stücke auflöste, überflüssiges Gewicht verlor, und daß daher der Schwung meines Sturzes nachließ und meine Geschwindigkeit abnahm. Es war nun nicht mehr ein Sturz ins Bodenlose. Ich begann hin und herzuschaukeln wie ein fallendes Blatt. Dann verlor auch mein Kopf sein Gewicht, und alles, was von „mir“ übrigblieb, war ein Kubikzentimeter, ein Klümpchen, ein winziger, körnchengroßer Rest. In ihm konzentrierte sich all mein Fühlen. Dann schien das Körnchen zu zerspringen, und ich ging in tausend Stücke. Ich wußte, oder irgendetwas irgendwo wußte, daß ich mir der tausend Stücke gleichzeitig bewußt war. Ich war dieses Bewußtsein selbst.

Dann fing ein Teil dieses Bewußtseins an, sich zu regen, er stieg auf und wuchs. Ich konnte mich lokalisieren, und nach und nach gewann ich wieder das Gefühl von Grenzen, von wachen Empfindungen oder dergleichen, und plötzlich ergoß sich das „Ich“, das ich kannte und mit dem ich vertraut war, in den spektakulärsten Anblick aller vorstellbaren Kombinationen von „schönen“ Szenen; es war, als ob ich Tausende von Bildern der Welt, von Menschen, von Dingen betrachtete. Dann verwischten sich diese Szenen. Ich hatte den Eindruck, daß sie immer schneller vor meinen Augen vorbeihuschten, bis ich sie nicht mehr einzeln wahrnehmen und untersuchen konnte. Schließlich war es, als ob ich den Aufbau der ganzen Welt in einer ununterbrochenen, endlosen Kette vor meinen Augen ablaufen sähe.

Plötzlich fand ich mich neben Don Juan und Don Genaro auf der Klippe wieder. Sie flüsterten mir zu, daß sie mich zurückgeholt hätten und daß ich das Unbekannte gesehen hätte, über das man nicht sprechen könne. Sie sagten, daß sie mich noch einmal in dieses Unbekannte schleudern würden und daß ich die Flügel meiner Wahrnehmung sich entfalten lassen und das „Tonal“ und das „Nagual“ gleichzeitig berühren solle, ohne mir bewußt zu sein, daß ich zwischen dem einen und dem anderen hin und herpendelte. Wieder hatte ich das Gefühl, durch die Luft geschleudert zu werden, zu kreiseln und mit ungeheurer Geschwindigkeit zu fallen. Dann explodierte ich. Ich löste mich auf. Irgendetwas in mir verteilte sich. Es setzte etwas frei, was ich mein Leben lang verschlossen gehalten hatte. Ich war mir deutlich bewußt, daß mein innerstes Reservoir angezapft war und daß es ungehemmt verströmte. Es gab nicht länger diese mir liebe Einheit, die ich „Ich“ nannte. Da war nichts, und doch war dieses Nichts erfüllt. Es war weder licht noch dunkel, weder heiß noch kalt, weder angenehm noch unangenehm. Nicht daß ich mich bewegt oder stillgestanden hätte oder geschwebt wäre, auch war ich keine vereinzelte Einheit, kein Selbst, wie ich mich zu erleben gewohnt bin. Ich war eine Myriade von Selbsten, die alle „ich“ waren, eine Kolonie separater Einheiten, zwischen denen ein besonderer Zusammenhalt bestand und die unaufhaltsam zusammenstrebten, um ein einzelnes Bewußtsein, mein menschliches Bewußtsein zu bilden. Nicht daß ich jenseits aller Zweifel >gewußt< hätte, denn es gab nichts, womit ich hätte „wissen“ können, sondern alle meine einzelnen Bewußtseine „wußten“ , daß das “Ich“, das „Selbst“ meiner vertrauten Welt eine Kolonie, ein Konglomerat von isolierten, unabhängigen Gefühlen war, die einander in unauflösbarer Solidarität verbunden waren. Die unauflösbare Solidarität meiner zahllosen Bewußtseine, der Zusammenhalt dieser Teile untereinander, das war meine Lebenskraft.

Um diese einheitliche Empfindung irgendwie zu beschreiben, könnte man sagen, daß diese Körnchen Bewußtsein verstreut waren; jedes war seiner selbst bewußt, und keines überwog vor den anderen. Dann rührte irgendetwas sie auf, und sie vereinigten sich und strömten in eine Region, wo sie sich alle auf einem Haufen versammeln mußten, dem „Ich“, das ich kenne. Und als „ich“, als „ich selbst“ beobachtete ich dann eine zusammenhängende Szene irdischer Aktivität oder eine Szene, die anderen Welten angehörte und die ich für reine Imagination halten mußte, oder eine Szene, die dem „reinen Denken“ zugehörte, das heißt, ich hatte Visionen von intellektuellen Systemen oder von Ideen, die zu Verbalisierungen gebündelt waren. In manchen Szenen sprach ich nach Herzenslust mit mir selbst. Nach jeder dieser zusammenhängenden Visionen löste das „Ich“ sich auf und war wieder nichts. Bei einer dieser Exkursionen in eine zusammenhängende Vision erlebte ich mich oben auf der Klippe neben Don Juan. Augenblicklich erkannte ich, daß ich nun das ganze, mir vertraute Ich war. Ich empfand meine Physis als real. Ich war in der Welt, statt sie nur anzuschauen.“ (Castaneda, C.: Die Kunst des Pirschens, a. a. 0., S. 157)

Das Fundament aller Erscheinungen und Wahrnehmungen sowohl des Tonals als auch des Naguals ist die Kraft. Geister, Lüfte, Winde, Verbündete, der Wille , das Schicksal, sie alle werden als Kräfte bezeichnet, die die Menschen, Tiere und alles Lebende leiten. Die übergeordnete Instanz oder die universale Kraft ist der Adler, der als solcher bezeichnet wird, weil er dem Sehenden so erscheint.

Der Adler ernährt sich von der Bewußtheit aller lebenden Geschöpfe, die wie ein endloser Schwarm von Leuchtkäfern nach ihrem Tod in den Schnabel des Adlers schweben. Trotzdem gewährt der Adler jedem Lebewesen die Chance, seine Bewußtheit zu behalten, falls er das will, Um diesen Durchlaß zur Welt der Unsterblichkeit zu finden, hat der Adler besondere Menschen geschaffen, Nagual genannt, die den anderen helfen, diesen Durchlaß zu finden. Don Juan ist einer dieser Naguale, und als er beschließt, diese Welt zu verlassen, wird Carlos zunächst widerwillig sein Stellvertreter. Jeder Mensch hat, nach den Worten Castanedas, die Möglichkeit, die Illusion seines Daseins zu durchschauen und damit seine Bewußtheit zu behalten bzw. das klare Licht, wie es im Tibetanischen Totenbuch heißt, zu erkennen und sich damit vom Rad der Wiedergeburt zu befreien. Castaneda spricht im übrigen von den Rillen der Zeit, in die wir gezwungen sind zu starren.

„Das Rad der Zeit sei so etwas wie ein Zustand gesteigerter Bewußtheit, der zum anderen Selfbt gehöre, ähnlich wie die linksseitige Bewußtheit zum Selbst des Alltagslebens gehöre, und es lasse sich physikalisch als ein Tunnel von unendlicher Länge und Breite beschreiben; ein Tunnel mit spiegelnden Rillen; jede Rille ist unendlich, und es gibt davon unendlich viele. Alle lebenden Wesen müssen, so will es die Lebenskraft zwanghaft in eine dieser Rillen starren. In diese Rille zu starren, bedeutet, von ihr gefangen zu sein, sie zu leben.“ (Castaneda, C.: Die Kunst des Pirschens, a. a. 0., S. 312)

Kraft läßt sich als persönliche Kraft speichern und nutzen. Der Mensch ist die Summe seiner persönlichen Kraft und »diese, Summe entscheidet darüber, wie er lebt und stirbt«. Persönliche Kraft wird als eine Art Glücklichsein, als Gefühl bzw. als Stimmung empfunden. Entscheidend dafür, persönliche Kraft zu speichern und zu nutzen, wie es ein Krieger zu seiner Hauptaufgabe macht, ist davon überzeugt zu sein, zu glauben, daß man diese Kraft speichern und anwenden kann.

Eine besondere Art Kraft ist der Wille. Wille wird von Don Juan dabei nicht als bloßes Wollen verstanden, wie wir es alltäglich benutzen, sondern Wille ist für ihn eine Macht, die befördert, aber gleichzeitig auch nicht erzwungen werden kann. Dieser Wille dringt durch eine unsichtbare Öffnung unterhalb des Nabels nach außen. Er kann nur kontrolliert werden, wenn der Krieger seinen Körper vervollkommt hat. Der Wille ist auch das Zentrum auf der linken Seite der Blase der Wahrnehmung, in der der Mensch seit seiner Geburt steckt, von wo aus der Weg ins Nagual angetreten werden kann. Auf der rechten Seite, dem Tonal, ist hingegen die Vernunft, deren Aufgabe es ist, unsere Wahrnehmung auf bestimmte Elemente zu konzentrieren und daraus die Ansicht unserer alltäglichen Welt zu bilden. Diese Ordnung ist jedoch nicht naturgemäß vorhanden, sondern muß erst durch Anleitung und Training geschaffen werden.
Ein wesentlicher und mit dem oben genannten stark zusammenhängenden Punkt ist bei Don Juan die Bezeichnung „Ganzheit des Selbst”. In einem Diagramm faßt er die acht wesentlichen Punkte zusammen, die diese Ganzheit des Selbst ausmachen.

 

 

 

Ein Mensch ist demnach vor allem Wille, denn Wille ist unmittelbar mit den drei Punkten Fühlen, Träumen und Sehen verbunden, außerdem ist der Mensch Vernunft. Das Nagual und das Tonal sind in erster Linie mit dem Willen verbunden, indirekt mit Fühlen, Träumen und Sehen und sehr weit vom Sprechen und von der Vernunft.

„Diese zwei Punkte werden sich niemals dem Sprechen oder der Vernunft unterordnen, sagte er. Nur der Wille kann sie beeinflussen. Vernunft ist so weit von ihnen entfernt, daß es völlig nutzlos ist, sie vernünftig ergründen zu wollen. Dies ist eines der am schwersten verstehbaren Dinge. Immerhin ist es das Privileg der Vernunft, daß sie alles vernünftelnd ergründen will.“ (Castaneda, C.: Der Ring der Kraft, a. a. 0., S. 110)

Wenn die Welt, so wie sie sich uns normalerweise darstellt, nur eine Beschreibung von vielen Möglichkeiten ist welche Welten gibt es noch? Bei seinen Visionen am Anfang seiner Lehrzeit hatte Carlos eine von Schwefeldämpfen erfüllte Ebene erlebt, über die sich ein wolkiger, blaßgelber Horizont wölbt. Je mehr er sich als Krieger vervollkommn, desto häufiger hielt er sich beispielsweise im Träumen in dieser als einer von vielen Welten auf, auch zusammen mit anderen. »In der Vision erschaute ich eine fremdartige Welt. Direkt vor meinen Augen war ein riesiger Stein ein Stein, der in zwei gespalten war. Durch eine breite Lücke blickte ich in eine grenzenlose, phosphorisierende Ebene hinaus, in ein Tal, das in ein grünlich gelbes Licht getaucht war. Auf der einen Seite des Tales, rechts meinem Blick durch den riesigen Stein teilweise verborgen, befand sich ein unglaubliches kugelartiges Bauwerk. Seine Farbe war dunkel, beinah grafitgrau. Wenn meine Körpergröße teilweise die gleiche war wie im alltäglichen Leben, dann mußte die Kuppel an die fünfzigtausend Fuß hoch und viele Meilen breit sein. Solche Ungeheuerlichkeit verwirrte mich. Ich empfand einen Schwindel und stürzte in einen Zustand der Auflösung. Eine Kraft zog mich nach unten.“ (Castaneda, C.: 159. Der Ring der Kraft, a. a. 0., S. 203)

Hier wird die Analogie zu den Berichten über die Astralkörperabspaltung deutlich. Auch dort ist es eine Art Sog, der die Träumenden zurückzieht. In einer weiteren Vision befindet Castaneda sich auf einer schier grenzenlosen Ebene, die seine Gefährtin la Gorda als das Gebiet zwischen der normalen und der anderen Welt bzw. als das Gebiet zwischen den parallelen Linien bezeichnet.

Die herausragendste Erkenntnis von Carlos in den letzten Jahren seiner Lehrzeit ist die Feststellung, daß die Welt offensichtlich zweigeteilt ist. In einer weiteren Vision zu seiner Linken kann er die Welt als normal erkennen, während sie zu seiner Rechten von einer sich ins Unendliche erstreckenden Nebelwand verhüllt ist. „Don Juan forderte mich auf, mich um ein paar Grad nach rechts zu drehen, und da bemerkte ich, daß die Nebelwand sich im gleichen Maße drehte, wie ich meinen Kopf bewegte. Die Welt war zweigeteilt, und zwar auf einer für meinen Intellekt unbegreiflichen Ebene. Die Teilung schien real, doch die Grenze lag nicht im Bereich des Physischen, sie mußte irgendwie in mir selber liegen. Oder nicht?“ (Castaneda, C.: Die Kunst des Pirschens, a. a. 0 », S. 109)

Es wurde ihm als große Errungenschaft bedeutet, wenn ein Krieger die Leichtigkeit und Selbstbeherrschung aufbringe, die Rotation dieser Nebelwand, die nicht in ihm, sondern tatsächlich außerhalb sei, aufzuhalten. Wenn ein Krieger diese Nebelwand anhalten könne, hätte er auch die Kraft, sie anzusehen und sie in die andere Welt zu durchschreiten.

La Gorda erzählt Carlos, daß jene andere Welt und unsere Welt sich auf parallelen Linien bewegen würden. Im Träumen erleben sie beide diese andere Welt, zumindest das Gebiet dazwischen, als Ebene mit kleinen runden Hügeln, die aus etwas besteht, das so aussieht wie blaßgelber Sandstein oder grobe Schwefelkörner. Durch immer häufigeren Besuch zu zweit oder mit mehreren lernen sie diesen Ort auch als real zu akzeptieren. Es war für sie wie ein Ausflug in die Berge oder eine Seereise in einem Segelboot.

Auf einer seiner Sitzungen lernt Carlos aber auch eine völlig andere Welt kennen. Ein dunkelblauer Himmel mit zwei Sternen als Sonnen, der Boden hatte die Farbe von „nasser Terrakotta“, war aber ausgedörrtundvon Spalten durchzogen. Carlos kam sehr oft hierhin und berauschte sich an dem wunderbaren Anblick, den ihm einer der kolossalen Himmelskörper bot, wenn er über dem Horizont aufging.

Das Ziel des makellosen Kriegers ist, mit vollem Bewußtsein den Durchlaß zur anderen Welt zu finden und hindurchzugehen. Dabei handelt es sich nicht um einen Durchlaß der physischen Realität, sondern es handelt sich offenbar um eine andere Dimension unseres Selbst, die parallel zu den uns bekannten existiert.

Die gesamte Lehre des Don Juan ist darauf abgestellt, dieses Ziel, den bewußt herbeigeführten Eintritt in das Nagual, zu erreichen, wobei das Anhalten des inneren Dialogs die wichtigste Technik ist, die von verschiedenen Hilfsmitteln unterstützt wird. Abschließend der Versuch, einige wesentliche Gesichtspunkte, die den Weg zum Nagual markieren, in einem Schema zusammenzufassen (siehe unten).

Das einfachste Hilfsmittel, das Nagual zu erreichen, ist die Anwendung von sogenannten Kraftpflanzen, die jedoch zu gefährlich sind und deshalb nur angewandt werden, um den eigentlichen Transformationsprozeß zu beschleunigen. Alle anderen Wege sind dadurch gekennzeichnet, daß sie ein jahrelanges Bemühen erfordern, mit dem vor allem die gewohnten, anerzogenen Verhaltensweisen und Einstellungen radikal verändert und andere Praktiken und Techniken wie das bewußte Träumen oder das Anhalten des inneren Dialogs unter häufig entbehrungsreichen Umständen erlernt werden müssen. Hervorzuheben ist noch, daß der Eintritt ins Nagual über das Sehen nicht jedermann möglich ist, sondern daß die Regel oder das Schicksal bestimmt, wer für diesen Bewußtseinsakt reif ist.

 

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