Das Ding an sich

Teil 1: Von Meister Eckardt bis Carlos Castaneda
Reise durch eine andere Wirklichkeit

7. Erkennt das Nicht-Sein des Seienden!

7.1 Koan und Satori im Zen

„Wenn man in die Hände klatscht, hört man einen Ton. Welches ist der Ton der einen Hand?“ (Hoffmann, Y.: Der Ton der einen Hand, München 1975, S. 59) Eine schwierige, wenn nicht unsinnige Frage, die der Zen-Meister seinem Schüler stellt, und doch entscheidet sich an ihr das geistige Schicksal des Befragten, zumindest soweit es seine Zen-Ambitionen betrifft. Sie zeigt auch das Kernproblem einer uralten Religionslehre. Der Zen-Schüler ist monatelang, wenn nicht jahrelang, beschäftigt, eine vom Meister akzeptierte Antwort zu finden.

Mit rationalen Überlegungen läßt sich dieses Koan ebensowenig lösen wie folgendes: „Vor langer Zeit hielt ein Mann eine Gans in einer Flasche. Sie wuchs und wuchs, und zuletzt kam sie aus der Flasche nicht mehr heraus. Der Mann wollte weder die Flasche zertrümmern noch die Gans verlieren. Wie würdest du sie herauskriegen?“ (Watts, A.: Vom Geist des Zen, Basel 1984, S. 72)

Der Kerngedanke des Buddhismus beschreibt die Welt, genannt sansara, als Kette von Erscheinungen, die nur durch unsere eigenen Handlungen zusammengehalten wird, das heißt, in dem Augenblick, in dem wir erkennen, daß wir selbst die Verursacher dieses Scheins (Maya) sind und die selbstgesetzten Schranken durchbrechen, werden wir erleuchtet und damit erlöst.

Bei Don Juan heißt es, die „Blase der Wahrnehmung“ zu durchstoßen und zur Ganzheit des Selbst“ finden. Solange wir den Dingen, vor allem unserer eigenen Person, verhaftet sind, wird sich das Rad des Lebens in Form von scheinbarem Glück, Leid, Enttäuschungen, Gewalt usw. wie das Rad der Wiedergeburt weiterdrehen.

Was in der Erleuchtung (Satori) wirklich geschieht, hat nicht einmal Buddha seinen Schülern erklärt, weil er es nicht für wichtig hielt. „Wenn sie dich voll Neugier fragen und wissen möchten, was ES ist, sollst du nichts bejahen und nichts verneinen. Denn was immer bejaht wird, ist nicht wahr. Und was immer verneint wird, ist nicht wahr. Wie soll einer wahrheitsgetreu sagen, was DAS ist, solange er selber das Seiende nicht völlig erreicht hat? Und nachdem er’s gefunden, welch ein Wort soll er senden aus Höhen, wo der Rede Fahrzeug nicht Gleise findet, darauf zu rollen. Drum halte den Fragern Schweigen entgegen- Schweigen- und einen Finger, weisend den Weg.“ (Watts, A.: a. a. 0., S. 16)

Zen, etwa 500 nach Christus in China entwickelt, ist gleichbedeutend mit dem Weg und Ziel der Erleuchtung. Zen ist radikal, aufrüttelnd und zerstörend; andererseits aber auch kindlich naiv, tölpelhaft, irrational. Bezeichnend für die Haltung des Zen gegenüber allem Weltlichen und Geistigen ist der folgende Ausspruch von Lin-Chi, einem buddhistischen Zen-Meister; die „O ihr Bekenner der Wahrheit: Wünscht ihr ein rechtgläubiges Verständnis des Zen, so laßt euch von anderen Leuten nicht betrügen! Stoßt ihr – inwendig oder außer euch – auf Hindernisse, schlagt sie kurzerhand tot! Stoßt ihr auf den Buddha, schlagt ihn tot! Stoßt ihr auf den Patriarchen, schlagt ihn tot! Schlagt sie alle ohne Zögern tot; denn dies ist der einzige Weg zur Befreiung. Laßt euch nicht in irgendein Ding verstricken, sondern steht darüber, schreitet weiter und seid frei!“ (Watts, A.: a. a. 0., S. 50)

Die Nachfahren des Buddha wähnten den Weg zur Erleuchtung in heiligen Schriften, in den Reden weiser Männer und in der erhabenen Abgeschiedenheit eines Klosters. Zen lehrt jedoch, daß die Wahrheit nicht irgendwann in irgendeinem Paradies zu erkennen ist, sondern daß sie sich hier und jetzt im alltäglichen Leben entschleiert. Dabei spielt es keine Rolle, ob man bei sich oder bei anderen sucht. Alle Aspekte unseres Lebens sind Teil der Buddha-Natur, und deshalb gibt es weder ein Geringeres noch ein Höheres.

Auf die Frage, was Erleuchtung sei, antwortet der Zen-Meister: Deine Alltagsgedanken. Oder: Die Zypresse vor dem Haus. Der wahrhaft religiöse Mensch ißt, wenn er Hunger hat, und schläft, wenn er müde ist. Er hat nicht den entferntesten Gedanken daran, nach Buddhatum zu verlangen. Tut er dies, so macht er zwischen sich und der Buddha-Natur einen Unterschied. Und damit reißt er einen Graben auf, den er doch zuschütten will. Das vielgerühmte Nirwana, der Zustand höchster Glückseligkeit, dämmert nicht erst nach soundsoviel Leben größten Bemühens, sondern kann hier und heute unmittelbar erlebt werden.

G. Ital, eine westliche Zen-Schülerin, hat diesen Augenblick der Erlösung, das Eins-Sein mit dem Einen, erlebt und beschreibt ihre anschließenden Gefühle wie folgt: „Es ist nun wirklich so, daß ein Tag voller Mißhelligkeiten und Beschwerden sein mag. Im Herzen ist jeder Tag ein guter Tag. Und nicht nur im Herzen. Alles ist leicht, auch wenn es schwer ist. Ich bin voller strahlender Heiterkeit, und bei notwendigen Besorgungen gehe ich durch die dampfende Gegend, als schwebte ich. Es ist ähnlich dem Stadium, in dem sich verliebte Menschen befinden. Allerdings nur >ähnlich<. Der Erwachte ist an nichts mehr verhaftet und stets bei kristallklarem Bewußtsein, und seine Beschwingtheit ist das Ergebnis seiner Transzendierung.“ (Ital, G.: Auf dem Weg zu Satori, München 1971, S. 212)

Allerdings, und das wird auch am Beispiel der Erfahrungen von Ital deutlich: Die Erleuchtung wird niemandem geschenkt, und der Weg dorthin ist hart, zumindest im Zen. Es wird zwar jedem gesagt, daß „Alles was ist, Nichts ist“ aber das Lesen dieses Satzes ist gleichbedeutend mit dem Lesen einer Speisekarte. Die Erfahrung des Inhalts, die Loslösung von allen Bindungen, ist tatsächlich für die meisten Menschen das schwierigste Unterfangen, dessen sie sich unterziehen können. Zwar gibt es Beispiele für Menschen, die bereits in jungen Jahren ohne große Übung zur Erleuchtung kamen, doch wird diese Fähigkeit auf ein entsprechend gutes Karma zurückgeführt, was bedeutet, daß der betreffende Mensch in früheren Leben bereits dafür gearbeitet hat.

Berühmt und berüchtigt ist die Zen-Disziplin, die dazu dient, die bisherige Lebensweise des Schülers aufzuheben und die persönlichen Schranken zu durchbrechen. Zen wird in der Regel im Kloster praktiziert. Die Mönche, darunter auch zeitweise Geschäftsleute, Journalisten, Neugierige, werden zwei Stunden auf einem kleinen Brett geschlafen haben. Sie versammeln sich, streng nach Rangfolge aufgereiht, in einer großen Halle zur Morgenandacht. Nach dem kärglichen Frühstück hat jeder möglichst schnell seinen Stuhlgang vorzunehmen, wobei die Art und Weise der Ausscheidung genau vorgeschrieben ist (Hoffmann, Y.: a. a. 0., S. 21). Dann beginnt die Meditation, als Zazen bekannt, die sich jeweils über mehrere Stunden auf den ganzen Tag bis zum späten Abend verteilt. Vorgeschrieben beim Zazen ist die Körperhaltung, der Lotussitz. Neulinge dürfen ein wenig „schummeln“ und nur einen Fuß auf einen Oberschenkel legen; dennoch kann auch diese Haltung so schmerzhaft sein, daß viele Entzündungen in den Gelenken bekommen, nachts nicht schlafen können und, zusätzlich gedemütigt von Stockhieben, die Tortur ganz abbrechen.

Der Stock, auch als Warnungsstab bezeichnet, wird vom jeweiligen Aufseher benutzt, um jede Abweichung von dem vorgeschriebenen Verhaltenskodex mit einem Schlag auf den Rücken zu ahnden. Das kann geschehen, wenn jemand ein Geräusch verursacht, nicht kerzengerade sitzt bzw. einschläft oder eben die Beinhaltung nicht korrekt einnimmt. Manchmal kann auch ein Schlag, der übrigens meistens ziemlich fest ist, erfolgen, ohne daß eine Abweichung vorliegt. Dann dient er dazu, den Erkenntnisdurchbruch des in höchster Konzentration befindlichen Meditierenden zu beschleunigen (Antes, P. / Uhde, B.: Aufbruch zur Ruhe, Mainz 1974, S. 104). Während der stundenlangen Meditation hat sich der Einzelne, unterstützt durch die ebenfalls vorgeschriebene Atemtechnik, ausschließlich auf die Lösung eines Koans, mitunter monatelang, oder aber auf das Nicht-Denken zu konzentrieren. Dieses Nicht-Denken ist eine innere Entleerung von Gedanken und Bildern, ähnlich wie in der Mystik. Bei Don Juan heißt es „Anhalten des inneren Dialogs“ das jedoch nicht bewußt erzwungen werden soll, sondern von selbst geschehen muß.

„Der jährliche Höhepunkt im Kloster ist das große Zazen im Dezember, das ununterbrochen acht Tage dauert. Schlaf ist abgesehen von kleinen Ruhepausen, nicht gestattet. Tore und Fenster der Meditationshalle sind trotz bitterer Kälte weit geöffnet. Viermal täglich müssen die Schüler zum Rapport, um ihrem Meister über den Fortgang ihrer Meditationsarbeit zu berichten. Manche Mönche überleben diese Quälerei nicht. Andere werden wahnsinnig. Daß aber kein einziger Mönch sich vor dieser beispiellosen Bewährungsprobe drückt, das spricht für den Geist des Zen, wie er in seinen wenigen Hochburgen noch herrscht. Mögen den Teilnehmern im Verlaufe eines Jahres auch Fehler aus menschlich-allzumenschlichen Gründen unterlaufen sein, in diesen Tagen und Nächten des sich selbst Aufgebens, des Erduldens aller Qualen um des Höchsten willen, lösen sich alle Irrtürmer und aller Wahn im Nichts und kristallklar leuchtet der Geist.“ (Ital, G.: a. a. )

Im Zen gibt es zwei Prüfsteine, die unmittelbar zusammenhängen. Der eine ist das Koan, von dem es über 1700 geben soll, und der andere ist der Blitz der Erleuchtung, das Satori, der häufig mit dem Lösen eines Koans einhergeht. In fast allen Koans steckt ein Dilemma oder ein Paradox, zu dem es keine vernünftige Antwort gibt. Dieses Problem ist aber auch das Problem des Zen überhaupt, nämlich über den Gegensatz von Ja und Nein, das heißt eindeutig sinnvollen Antworten auf Fragen des Lebens hinauszukommen, weil Gegensätze die Wahrheit des Einen nur verdunkeln.

Die symbolhafte Geschichte von dem Mann, der eine Gans in der Flasche aufzieht, weist auf den Menschen und seine Lebensumstände hin. „Der Mensch muß entweder die Welt aufgeben, um sich von ihr zu befreien, oder muß von ihr zerrieben werden, aber das eine wie das andere käme dem Selbstmord gleich.“ (Watts, A.: a. a. 0., S. 73) 

Welchen Sinn hat es also, unter diesen Umständen Selbstmord zu begehen? Keinen, und das ist das Dilemma des Zen-Schülers. Die Antwort auf dieses Koan erschließt sich dem Meditierenden erst, wenn er, unterstützt durch seinen Meister, alle verstandesgemäßen Lösungen nach und nach verwirft und in einen Zustand gerät, der das Lösen des Koans vergleichbar mit einer Kugel rotglühenden Eisens macht, die einem in der Kehle steckt. Das Problem wird immer dringlicher. Der Schüler fühlt sich wie eine Ratte im Labyrinth. Und wenn er, niedergedrückt durch die Wucht des Problems, am Boden liegt, »vergißt du dich dieses eine Mal. Du dringst durch, und das Werk ist vollbracht.“ (Watts, A.: a. a. 0., S. 78) 

Der Blitz der Erleuchtung fährt durch ihn hindurch, wie Phönix aus der Asche entspring er unversehrt der Flasche, die nur den eingebildeten Kerker seiner starren Lebensanschauung darstellt, und er ist frei. „Das zentrale Erlebnis im Satori und in der Zeit danach ist das Fehlen des Ich. Statt Ich, handelt nur noch ES. Und dieses Es ist gekennzeichnet durch vollkommene Absichtlosigkeit.

Statt über Koans zu meditieren, läßt sich dieses Ziel auch in der Ausübung einer besonderen Fertigkeit erreichen. Zen kennt hier einige Künste, wie die Kunst des Blumensteckens, der Malerei oder des Teetrinkens. Das Malen muß beispielsweise aufgrund der vorgegebenen Materialien (sprödes Papier, Pinsel, schwarze Tusche wie ein „Wirbelwind“ erfolgen, da sich ein einmal gezogener Strich nicht auswischen läßt. Das Bild wird in wenigen Augenblicken vollendet, da auch das Anhalten des Pinsels einen häßlichen Klecks verursacht. Es entsteht – wie des Zen-Meisters Stockhieb – plötzlich, unwiderruflich, entschlossen und voller Wucht (Watts, A.: a. a. 0., S. 116).

Ein deutscher Professor erlernte während seines jahrelangen Japan-Aufenthaltes die Kunst des Bogenschießens. Nachdem er eine längere Schulung hinter sich gebracht hatte, fragte er eines Tages seinen Meister, wie sich denn der Schuß löse, wenn er es ohne Absicht tun solle. Der Meister antwortete ihm, daß das „Es“ dies tun werde. Auf die weitere Frage, was „Es“ sei, antwortete der Zen-Meister: „Wenn Sie dies einmal verstehen, haben Sie mich nicht mehr nötig: Und wenn ich Ihnen auf die Spur helfen wollte, die eigenen Erfahrungen Ihnen ersparend, wäre ich der schlechteste aller Lehrer und verdiente, davongejagt zu werden. Also sprechen wir nicht mehr darüber, sondern üben wir!“ (Antes, P. /Uhde, B.: a. a. 0., S. 110)

Weitere Wochen vergingen, ohne daß der Schüler einen Schritt weiterkam. Dafür stellte sich eine Gleichgültigkeit gegenüber allen Zielen im Zen ein, die er vorher nicht gekannt hatte. Ob er nun die Kunst des Bogenschießens erlernte oder nicht, ob er jemals erfahren würde, was „Esun für Zen interessierte oder nicht. Er lebte in den Tag hinein, erledigte, so gut es ging, seine berufliche Arbeit und übte weiter, ohne auch nur einen Gedanken über mögliche Ziele zu verschwenden. „Da eines Tages, nach einem Schuß, verbeugte sich der Meister tief und brach dann den Unterricht ab. >Soeben hat „Es“ geschossen, < rief er aus, als ich ihn fassungslos anstarrte. Und als ich endlich begriffen hatte, was er meinte, konnte ich die jäh aufbrechende Freude darüber nicht unterdrücken. > Was ich gesagt habe < tadelte der Meister, > war kein Lob, nur eine Feststellung, die Sie nicht berühren darf. Ich habe mich auch nicht vor Ihnen verbeugt, denn Sie sind nicht ganz unschuldig an diesem Schuß. Sie verweilten diesmal völlig selbstvergessen und absichtslos in höchster Spannung; da fiel der Schuß von Ihnen ab wie eine reife Frucht. Nun üben Sie weiter, wie wenn nichts geschehen wäre!“(Antes, P. /Uhde, B.: a. a. 0., S. 111)

Der Schüler konnte auch später nicht verstehen, was beim ersten Schuß und bei manchen folgenden Schüsse vor sich gegangen war. Ohne das er es wollte, schnellte seine geschlossene Rechte plötzlich geöffnet zurück, und der Schuß löste sich aus unerfindlichen Gründen. Nur der Unterschied zwischen rechten und mißlungenen Schüssen wurde ihm allmählich klar. Bei Fehlschüssen entlud sich beispielsweise der Atem des Schützen stoßweise; rechte Schüsse zeichneten sich dadurch aus, daß der Atem mühelos gleitend entlassen werden konnte, das Herz gleichmäßig ruhig weiterarbeitete und auch die rechte Hand beim Abfeuern des Schusses nicht ruckartig zurückschnellte, sondern wie von einer „Gummiwand“ abgefangen wurde? „Im Laufe der Zeit gelangen zuweilen mehrere Schüsse nacheinander, welche die Scheibe trafen, neben freilich noch immer mißratenen. Aber wenn ich nur im geringsten Miene machte, mir etwas darauf einzubilden, faßte mich der Meister ungewöhnlich schroff an. >Was fällt Ihnen denn ein?< rief er dann. >Über schlechte Schüsse sollen Sie sich nicht ärgern, das wissen Sie schon längst. Fügen Sie hinzu, sich über gute Schüsse nicht zu freuen. Von dem Hin und Her zwischen Lust und Unlust müssen Sie sich lösen. Sie müssen lernen in gelockertem Gleichmut darüber zu stehen, sich also so zu freuen, wie wenn ein anderer und nicht Sie gut geschossen hätte. Auch hierin müssen Sie sich unermüdlich üben – Sie können gar nicht ermessen, wie wichtig dies ist.

< Ich habe in diesen Wochen und Monaten die härteste Schule meines Lebens durchgemacht, und wenn es mir auch nicht immer leicht fiel, mich einzufügen, lernte ich doch allmählich einsehen, wie viel ich ihr zu verdanken habe… >Verstehen Sie jetzt< fragte mich einmal der Meister nach einem besonders guten Schuß, >was es bedeutet: „Es“ schießt, „Es“ trifft? < >Ich fürchte< erwiderte ich, >daß ich überhaupt nichts mehr verstehe, selbst das Einfachste wird verwirrt. Bin ich es, der den Bogen spannt, oder ist es der Bogen, der mich in höchste Spannung zieht? Bin ich es, der das Ziel trifft, oder trifft das Ziel mich? Ist das „Es“ in den Augen des Körpers geistig und in den Augen des Geistes körperlich – ist es beides oder keines von beiden?… > Jetzt eben <, unterbrach mich der Meister, >ist die Bogensehne mitten durch Sie hindurchgegangen.<“ (Antes, P. / Uhde, B.: a. a. 0., S. 112)

7.2 Das Tibetanische Totenbuch

Zur Welt nach buddhistischer Auffassung gehört neben dem Rad des Lebens auch das Rad der Wiedergeburt. Der Buddhist glaubt an die Reinkarnation, die Wiederverkörperung der Seele in einem anderen Leben. Im Gegensatz dazu vertritt Don Juan die Auffassung, daß der Adler, ein Symbol für Gott, die Bewußtseinseinheiten gerade Verstorbener in Form kleiner Flämmchen verschlingt, wenn es ihnen nicht gelungen ist, vorher im Vollbesitz ihres persönlichen Bewußtseins auf die andere Seite zu wechseln. So steht der Tod hinter Carlos Castaneda immer als Zeichen der ablaufenden Zeit.

Das Tibetanische Totenbuch (Bardo Thödol) ist eines der wenigen Literaturerzeugnisse, die ausführlich auf die Erlebnisse der Menschenseele beim Sterben, im Nach-Tod-Zustand und bei der Wiedergeburt eingehen. Bardo Thödol ist darüber hinaus eine Anweisung, wie der Verstorbene mit Hilfe vorgelesener Texte das Licht der Erlösung erkennen und das Rad der Wiedergeburt verlassen kann. Danach ist das richtige Sterben eine Kunst, die bereits im Leben eingeübt werden muß; es ist, ganz gleich, welches Karma an schlechten Taten man auf sich geladen hat, eine jedem offenstehende Möglichkeit, sofern er den Schleier der Maya zerreißt.

Woher stammt das Wissen um den Nach-Tod-Zustand und die Wiedergeburt? Die Weisen Tibets glauben, daß es keinen Menschen gibt, der nicht von den Toten zurück-gekehrt ist. Geburt ist für sie nur eine andere Bezeichnung für denselben Vorgang, so wie wir die Tür einmal als Eingang, einmal als Ausgang bezeichnen (Das Tibetanische Totenbuch, London/ Olten 1983, S. 21). Wenn sich niemand an seinen letzten Tod erinnert, dann ist das nicht verwunderlich, denn an seine Geburt erinnert man sich ja auch nicht.

Einigen Menschen scheint es jedoch gelungen zu sein, das Unbewußte in ihnen zu „durchschauen“ und so konnte sie uns eine minutiöse Beschreibung des Todes-Erlebnisses geben. Das zentrale Thema des Bardo Thödol ist die Angst des Menschen vor dem Sterben und seine Unfähigkeit, die daraus resultierenden Projektionen seines Unterbewußtseins als solche zu erkennen. „Dies ist die Stufe des Bardo Thödol, die den Jünger über den Bereich des Todes hinaushebt und ihn befähigt, die Illusion des Sterbens zu durchschauen und sich von der Furcht vor ihm zu befreien. Diese Illusion besteht in der Identifizierung des Individuums mit seiner temporären, vergänglichen Form, sei sie körperlich, seelisch oder mental, und führt zu der irrtümlichen Vorstellung einer persönlichen, für sich und in sich selbst bestehenden, gesonderten Ichheit und zu der Furcht, sie zu verlieren. Wenn jedoch der Jünger gelernt hat, sich mit dem Ewigen, dem Dharma, dem Unvergänglichen Licht der Buddhaschaft in seinem Inneren zu identifizieren, dann wird seine Todesfurcht wie eine Wolke vor der aufgehenden Sonne verschwinden.“ (a. a. 0., S. 37)

Bardo Thödol begleitet in Form von Belehrungen den Verstorbenen vom Augenblick seines Todes über den Zwischenzustand Bardo-Existenz bis hin zur Wiedergeburt. Dieser Zeitraum umfaßt symbolisch 49 Tage, in denen ein Lama oder ein guter Freund in der Nähe der Leiche den Text vorliest. Das Tibetanische Totenbuch ist dem Ägyptischen Totenbuch und anderen Handbüchern verwandt, die sich mit dem Tod und der Zeit danach beschäftigen (a. a. 0., S. 41 ). Sobald der Atem aufhört, hat der Lama die Aufgabe, dem Sterbenden die Pulsadern abzupressen, um zu gewährleisten, daß sein Bewußtsein über den nahen Tod so lange wie möglich erhalten bleibt und daß der Lebensstrom den richtigen Weg aus dem Körper nimmt. Als beste Austrittsöffnung gilt das Brahmanenzentrum am Scheitel des Kopfes (Scheitel-Chakra), das als Sitz des Bewußtseins bezeichnet wird. Danach wendet sich der Lama an den Sterbenden: „Oh Edelgeborener, jetzt ist die Zeit gekommen, wo du den Pfad (in die Wirklichkeit) suchst. Dein Atem hört gleich auf. Dein Guru hat dich zuvor von Angesicht zu Angesicht gesetzt mit dem Klaren Licht, und du bist jetzt im Begriff, es in seiner Wirklichkeit im Bardo-Zustand zu erfahren, worin alle Dinge wie leere wolkenlose Himmel sind, und der nackte fleckenlose Geist wie ein durchsichtiges Vakuum ohne Umkreis oder Mittelpunkt. In diesem Augenblick erkenne dich selbst und verharre in diesem Zustand.“ (a. a. 0., S. 166)

Das Klare Licht, wie es hier heißt, ist das Sinnbild für die formlose Leere, für reines ungebrenztes Bewußtsein, für das erstrebte Nirwana, für absolute Freiheit und Glückseligkeit. Der Sterbende hat besonders am Anfang, wenn dieses Licht nur gering durch Maya verdunkelt ist, aber auch auf allen anderen Stufen, die Möglichkeit, dieses Licht als die einzige Wahrheit und alle übrigen Visionen als Schatten seines unvollkommenen Bewußtseins zu erkennen. Gelingt ihm dies, ist er erlöst. Gelingt es ihm nicht, nimmt der Bardo seinen Fortgang und führt ihn immer weiter durch das Auftauchen furchterregender Gestalten, Qualen und Ängste vom Licht weg in die Finsternis.

Entscheidend für die Fähigkeit des Sterbenden, seinen Tod und die dabei auftretenden Erscheinungen als Illusion zu durchschauen, ist die Qualität seines Karmas, das heißt seiner angehäuften Taten im Guten und Schlechten. Nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung führen gute Taten, die zu einem gewissen Maß auf Ich-Losigkeit beruhen, in den Himmel, das heißt zur Erkenntnis; schlechte hingegen, gekennzeichnet durch Ich-Sucht, in die Hölle, in die Unwissenheit.

Wer das Klare Licht erkennt, vor allem ohne tatkräftige Unterstützung des Bardo Thödols, ist aufgrund seiner Verdienste im letzten und in den vorangegangenen Leben reif dafür; andere haben diese Möglichkeit vertan. Der Bardo Thödol ist insofern nur ein Hilfsmittel, um dem Sterbenden die Erkenntnis zu erleichtern. Zur Vorbereitung auf das Sterben dient er aber auch den Lebenden.

Die Erscheinung des Klaren Lichts entspricht der Bewußtlosigkeit des Sterbenden, aus der er wieder erwacht, wenn er nicht erlöst wurde. Dabei handelt es sich nicht um den wachbewußten Zustand vor dem Tode, sondern eher um ein Traumbewußtsein. Das Bewußtsein knüpft dabei an jenen Zustand an, der unmittelbar vor seiner Ohnmacht lag, auch wenn der Sterbende das Gefühl haben könnte, daß er tagelang bewußtlos war. Zunächst ist ihm, anders gesagt, nicht bewußt, daß er tot ist. „Zur dieser Zeit kann (der Verstorbene) sehen, daß sein Anteil an Nahrung beiseite gesetzt wird, daß man den Körper seiner Kleider entledigt, daß der Platz seines Schlafteppichs gereinigt wird, er kann alles Weinen und Wehklagen seiner Freunde und Verwandten hören, und obgleich er sie sehen und sie nach ihm rufen können kann, können sie sein Rufen nach ihnen nicht hören, weshalb er unzufrieden weggeht.“ (a. a. 0., S. 177)

Das Bewußtsein taucht nun in der Erinnerung an den verschiedenen Plätzen seines vorangegangenen Lebens auf. Es erlebt sich selbst in einem Körper, der dem physischen aufs Haar gleicht, und erkennt allmählich, daß es sich dabei um einen Traumkörper handelt und daß es als Mensch gestorben ist. Wie der Text sagt, ist es ein eingebildeter Körper, der weder vom Spiegel reflektiert wird, noch einen Schatten wirft und der Wunder vollbringt, wie durch einen Berg hindurchzugehen und dergleichen (a. a. 0., S. 67). In dieser Zeit nimmt das Bewußtsein Klänge, Lichter und Strahlen wahr, die es erschrecken und große Müdigkeit bereiten. Dann muß der Lama wieder mit großer Eindringlichkeit auf den Verstorbenen einreden und ihm klarmachen, daß seine Visionen nur die Folge seines Karmas, das heißt, seiner Unwissenheit sind.

„Oh du Edelgeborener, als sich dein Körper und Geist trennten, mußt du einen Schimmer der Reinen Wahrheit erfahren haben, sanft, sprühend, hell, blendend, wunderbar und strahlend, ehrfurchterregend, anzusehen wie eine Fata Morgana, die über eine Landschaft im Frühling in einem ununterbrochenen Strom von Vibrationen dahinzieht. Laß dich nicht davon anfechten, nicht erschrecken, nicht einschüchtern. Das ist die Strahlung deiner eigenen wahren Natur. Erkenne sie… Der Körper, den du jetzt hast, wird der Gedankenkörper der Neigungen genannt. Da du keinen materiellen Körper von Fleisch und Blut hast, können, was auch kommen mag – Klänge, Lichter oder Strahlen – dir nichts anhaben: Du bist unfähig zu sterben. Es genügt vollends, daß du weißt, daß diese Schemen deine eigenen Gedankenformen sind. Erkenne dies als den Bardo.“ (a. a. 0., S. 180)

Der Gedanken-, Traum- oder auch Bardokörper, in dem wir unschwer den bereits bekannten Seelen- oder Astralkörper wiedererkennen, ist mit allen Sinnesfähigkeiten und der Macht zu ungehinderter Bewegung ausgestattet, auch wenn der Verstorbene zu Lebzeiten taub, blind oder lahm war. Seine Hervorbringung wird auch als übernormale Geburt bezeichnet. Zunächst erscheinen dem Bewußtsein, entsprechend seinem Karma, friedliche und zornige Gottheiten, die in immer trüberes Licht getaucht sind und ihn bedrücken, quälen und Schmerzen bereiten. Es irrt umher, von ständig wechselnden Erscheinungen geplagt, die ein Äquivalent seiner bisherigen Verdienste, seiner Gelüste und seiner Dummheit und Unwissenheit sind. Wenn es dann vor dem Todesgott steht und aus Angst in Lügen verfällt, daß es keine böse Tat begangen habe, wird es einen vielfach qualvollen Tod erleiden, der sehr stark an Initiationserlebnisse von Schamanen erinnert.

„Darauf (auf die Lüge hin) schlingt eine der ausführenden Furien des Todesgottes ein Seil um deinen Hals und zerrt dich weg; sie schneidet deinen Kopf ab, nimmt dein Herz, heraus, reißt deine Eingeweide heraus, leckt dein Hirn aus, trinkt dein Blut und nagt an deinen Körper; du aber bist unfähig zu sterben. Selbst wenn dein Körper in Stücke zerhackt wird, erholt er sich wieder. Das wiederholte Zerhacken bereitet, furchtbare Schmerzen und Qualen.“ (a. a. 0., S. 245) 

Im übrigen herrscht im Barbo nicht nur qualvolle Finsternis. Die mit einem guten Karma aufwarten können, „erleben“ verschiedene Freuden, Glück und Wohlsein in vollem Maße.

Es gibt auch Menschen mit einem neutralen Karma, in dem sich gute und schlechte Taten gegenseitig aufwiegen, die weder Freuden noch Leiden erleben, sondern eine farblose Gleichgültigkeit. Eindringlich warnt Bardo Thödol davor, sich diesen Freuden hinzugeben. Genauso wie die Schmerzen sind auch sie nur Illusion, deren Schleier zerrissen werden muß, wenn das Bewußtsein erlöst werden soll.

Neben den Gottheiten erscheinen dem Bewußtsein verschiedene farbige Lokas, die den möglichen Ort seiner Wiedergeburt anzeigen. Die besseren Lokas sind den gottähnlichen Wesen Engeln und Menschen vorbehalten, die anderen den Geistern, Unholden und Teufeln. Bei den Geistern handelt es sich um Seelenkörper, die sich an den Bardo-Zustand gewöhnt haben, weil sie fälschlicherweise glaubten, daß dieser illusorische Aufenthalt ein gewöhnlicher Zustand sei. Sie werden dadurch in ihrer Entwicklung um Jahrhunderte zurückgeworfen und irren als beklagenswerte Geschöpfe im Bardo herum.

Neben diesen kompletten Seelengebilden gibt es auch sogenannte Schalen oder Teilkörper, die ohne eigenes Bewußtsein existieren und eine Art Treibmüll im Bardo darstellen. Zum Ende des Bardo nimmt der Seelenkörper die Farbe des Loka an, in dem geboren zu werden ihm bestimmt ist. Kommt er in die Hölle, so geht er dorthin in dem gleichen feinstofflichen Körper, den er jetzt auch besitzt, und dort hat er schreckliche Qualen für lange Zeit zu erdulden. Doch diese Qualen dauern genauso wie die Freuden im Himmel der Götter nicht ewig. Irgendwann wird das Bewußtsein auf der Erde wiedergeboren, weil nur dort karmisch wirksame Taten vollbracht werden können. Bei direkter Wiedergeburt auf der Erde sieht das Bewußtsein die Visionen kohabitierender Männer und Frauen und sehnt sich immer stärker nach den Freuden des irdischen Daseins. Dabei kann es allerdings geschehen, daß es sich, nachdem Ei und Samen sich vereinigt haben, nicht als Mensch wiederfindet, sondern als Hund oder als Schwein. Selbst als Ameise oder als Made kann es nach dem Bardo Thödol wiedergeboren werden, wenn das Karma es so bestimmt (a. a. 0., S. 258). Auch von hier gibt es ein Zurück, wenn auch der Geist eine schreckliche Verdunkelung, zusammen mit Stumpfheit und Dummheit, erleiden muß.

All diese Leiden kann sich das Bewußtsein ersparen, wenn es nach Möglichkeit bereits im Augenblick des Todes den Schleier der Maya zerreißt und ins formlose Nirwana eingeht. Hierzu benötigt es aber ein entsprechendes Karma und/ oder das Glück, daß ihm jemand den Bardo Thödol zur rechten Zeit vorliest. Besser wäre es allerdings, wenn es ihn schon zu Lebzeiten kennenlernte. Deshalb ist das Tibetanische Totenbuch auch ein Buch für die Lebenden, die die Kunst des Sterbens erlernen wollen. Die Wirklichkeit als Illusion, nur als eine mögliche Beschreibung – das ist auch der Kerngedanke der Lehren Don Juans. Ihm geht es aber nicht um die Kunst des Sterbens, sondern vielmehr darum, bei noch „lebendigem“ Bewußtsein die Welt als Maya zu erkennen und daraus seinen Vorteil zu ziehen, das heißt die „Flügel der Wahrnehmung“ auszubreiten und sich vom Zwang, in eine bestimmte „Rille der Zeit“ zu starren, zu befreien.

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