Das Ding an sich

Teil 1: Von Meister Eckardt bis Carlos Castaneda
Reise durch eine andere Wirklichkeit

4. Der Flug zu den Göttern

4.1 Die Initiation des Schamanen

Immer schon besaßen manche Menschen sozusagen eine Antenne zur anderen Wirklichkeit. Unter ihnen sind große Religionsführer wie Jesus Christus oder Buddha, aber auch viele kleine unbekannte „Erleuchtete“ die auf lokaler ebene Zeugnis von ihrer Bewußtseins-Transformation ablegten und als Propheten, Heiler, Medizinmänner, Zauberer usw. Achtung und Ehrfurcht ihrer Mitmenschen gewannen.

Natürlich hat es auch immer wieder Scharlatane gegeben, die das Wort Gottes im Munde führten und hinterm Rücken die Hand aufhielten. Obwohl auch sie wichtige gesellschaftliche Funktionen erfüllten, z.B. eine Alibifunktion für Andersgläubige, wollen wir uns im folgenden mit Vertretern einer Zunft beschäftigen, die erstaunliche Erfolge im Umgang mit Krankheiten, mit dem Tod und vor allem mit der Seele vorweisen können. Zu ihnen gehören die Schamanen, deren Spuren bis in die Steinzeit reichen und die überall auf der Welt in Jäger- und Sammlergemeinschaften aufgetreten und noch heute in nicht zivilisierten Kulturen anzutreffen sind. Die Schamanen sind Universalgenies. Nicht nur, daß sie sich rühmen, mit der jenseitigen Geister- und Götterwelt auf gutem Fuß zu stehen, sie sind außerdem Dichter und Sänger, geistliche Führer, Richter und Politiker, Seher und Visionäre, Psychologen und Unterhalter, Priester und Forscher und vor allem Heiler.

Lassen wir uns zunächst einmal berichten, wie eine Heilungszeremonie abläuft (Gruber, E.: a. a. 0., S. 199):

„Wenn der Hei/om Schamane (Südwestafrika) zu einer Heilung schreitet, dann versammeln sich Verwandte und Freunde des Kranken. Sie klatschen rhythmisch in die Hände, stoßen hin und wieder schrille Töne aus. Auf einer Bahre liegt, geschwächt und apathisch, ein Mann, der über schwere Schmerzen an der Leber oder am Magen klagt. Der Schamane erscheint, umtanzt zum Gesang der Versammelten das Feuer.“ Der Schamane springt auf die glühenden Kohlen, um seine außergewöhnliche Existenz zu demonstrieren. Diese Demonstration könnte unwichtig sein. Vielleicht ist es nur eine Geste oder ein Spiel. Gruber spricht von der großen „Performance eines periodisch verrückt werdenden Eingeborenen“. Dann springt der Schamane wieder wild ums Feuer, zertrennt den Kreis der Umherstehenden, die in rhythmisches Klatschen ausgebrochen sind, und verschwindet im Buschfeld. Nach längerer Zeit kommt er, aus vielen kleinen Wunden blutend, zurück. Er kniet neben dem weiterhin reglosen Kranken nieder und beginnt, in der Höhe der Leber, an dessen Körper kräftig zu saugen. Er zittert vor Anstrengung. Mehrere Minuten lang setzt er sein Saugen fort, dann springt er von seinem Patienten weg, wälzt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf der Erde und spuckt schließlich ein kleines Tier in seine Hand, das er daraufhin ins Feuer wirft.

„Im Buschfeld hatte eine große Antilope auf den Schamanen gewartet, auf der er zum Weltenbaum geritten ist. Diesen erklimmt er und erreicht die Behausung /Gamabs (oberster Gott), während seine schützenden jenseitigen Freunde für die Sicherheit der Gefahrvollen Unternehmung sorgen. Mit /Gamab beginnt nun das große Feilschen um das Leben des Erkrankten, das jeden Kasbah-Handel in Tanger zu einem blassen Geplänkel degradiert. /Gamab gibt nach, denn der Hei/om ist wahrscheinlich ein großer Schamane, und zieht den Pfeil, der die Krankheit verursacht hat, wieder aus dem Körper des Patienten. Jetzt beeilt sich der Schamane, an den irdischen Zeremonialort zurückzukehren. Die Dornen im Gebüsch, durch das die Antilope rast, reißen seine Haut blutig. Das Saugen am Körper des Kranken ist nur noch Formsache… Am Ende der stundenlangen Krankenheilung steht der Patient auf und geht ohne fremde Hilfe zurück zur Siedlung. Auch nach mehreren Tagen gibt es keinen Rückfall der Krankheit.“ (Gruber, E.: a. a. 0., S. 200)

Krankheit hat für den Schamanen besondere Bedeutung, denn sie ist ein zentrales Mittel, mit dem er zu seinem Amt berufen wird (Eliade, M.: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik, Frank­furt 1982, S. 43). Im Gegensatz zu unserer westlichen Auffassung von Krankheit als einer von außen kommenden Gefahr für Körper und Geist, die es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt, verstehen andere Gesellschaften und Stammeskulturen Krankheit und Leiden als eine Art innerer Säuberung von schlechten Gewohnheiten und falscher Lebensführung. Krankheit ist für sie Aufforderung zur Selbsterkenntnis und zur Selbstveränderung.

In diesem Sinne erleben Schamanen-Novizen oft Krankheiten, die sie bis an den Rand des Todes und manchmal darüber hinaus führen. Eine derartige Krankheit bedeutet für sie Wandlung, Erneuerung und Wiedergeburt. Sie träumen davon, daß sie im Jenseits zerstückelt, verbrannt, gekocht und gesotten werden. Ihre Organe werden ausgetauscht, sie bekommen „sehende Augen“ und „hörende Ohren“. Manchmal werden Kristalle in Ihre Brust eingepflanzt, die ihnen die späteren schamanischen Heilkräfte verleihen.

Ein typischer Bericht über diese Art der Initiation (Einweihung) ist die Geschichte eines jungen sibirischen Samojeden, der eines Tages schwer krank wurde, sich drei Jahre mit der rätselhaften Krankheit abmühte und dann, anstatt gesund zu werden, besinnungslos wurde, so daß man ihn am dritten Tage begraben wollte. Er kam aber wieder zu sich und erzählte von den seltsamsten Begebenheiten während seines dreitägigen Todes. Er wanderte am Ufer eines Flusses entlang und begegnete dem Herrn der Unterwelt, der ihm riet, alle Wege der Krankheit zu gehen. Er traf auf unangenehme Weise den Herrn der Verwirrung, der Dummheit und des Wahnsinnes. Er lernte von zauberhaften Schamaninnen jene gefühlsbetone Form des Singens, mit der Schamanen ihre himm-lischen Verbündeten bewegen, sie zu den Göttern zu fliegen.

Der Herr des Lebensbaumes schenkte ihm einen Zweig, aus dem er drei Trommeln anfertigen sollte. Eine Trommel sollte er bei Frauen im Kindbett, die zweite bei Krankheiten und die dritte bei Leuten anwenden, die im Schneegestöber verlorengehen. Außerdem schenkte er dem Samojeden sieben Gräser: eins gegen die russische Krankheit, das zweite gegen alle kleinen Krankheiten, das dritte gegen Husten und Schnupfen, eines gegen die verschiedenen Anfälle, das nächste gegen Bisse von toll gewordenen Tieren, das sechste zur Rettung Sterbender und das siebte zur Stärkung der in Krankheit ermatteten Menschen. Mit drohenden Worten wurde ihm der Schamanische Moral-Kodex eingehämmert: Weise nie einen Hilfesuchenden zurück oder du selbst wirst zum Hilfesuchenden!

Nach weiteren Wanderungen durch Einöden und Sümpfe gelangte er an einen hohen Berg mit einer Höhle, aus der ihm fürchterlicher Lärm, Hitze und Feuer entgegenschlagen. Ein schweißbedeckter nackter Mann bediente einen Blasebalg, ein riesiger Kessel hing über dem offenen Feuer. Da ergriff der Mann den Novizen mit einer Zange, riß ihm den Kopf ab, zerstückelte den Körper und warf alles in den Kochtopf. Zufrieden lächelnd wachte der Mann darüber, daß sich alles in der Brühe des Vergessens auflöste. Nur das Gehirn schien besonders widerspenstig zu sein, so daß der Unterwelt-Schmied sich etwas Besonderes einfallen lassen mußte, um auch dieses Stück erworbener Ordnung aufzulösen. Er fischte den Kopf heraus und warf ihn auf den Amboß, hämmerte mehrmals auf ihn ein und schleuderte ihn dann in einen Kessel mit eiskaltem Wasser. In der anderen Brühe hatten sich mittlerweile die Muskeln von den Knochen gelöst, die Knochen wurden getrocknet, zusammengebaut und mit Fleisch bedeckt. Neue Augen und Ohren eingesetzt, mit denen der Samojede nunmehr die Natur durchschauen konnte. Jedes Blatt und jeder Stein öffnete sich nun, so wie er alles durchschaut hat.

„Der Erdhügel oder der Grashalm, der Fels oder der Wind – alle offenbaren nunmehr, sie sind nicht mehr einfach da draußen, losgetrennt vom Leben und der Persönlichkeit im Einzelnen. Der neue Leib ist die neue Welt.“ (Gruber, E.: a. a. 0., S. 114)

Bei koreanischen Schamaninen treten neben physiologischen Störungen sozial auf-fällige Verhaltensweisen wie unkontrolliertes Benehmen, Unhöflichkeit und ganz allgemein abnormes, die übliche Lebensweise auf den Kopf stellendes Verhalten auf (bei Don Juan heißt es Nicht-Tun), wie z.B. Das Tragen von Winterkleidern im Sommer, kaltem Baden im Winter, Wahrsagerei usw. (Kalweit, H.: Traumzeit und innerer Raum, München 1984, S. 92)

Andere hören Stimmen, sprechen in fremden Zungen, erleiden Anfälle von Depressionen und manischer Tanzwut. Oft ist es ein Traum, der ihr Leben beendet und in dem sie Anweisungen und Erklärungen für ihr späteres Schamanenleben empfangen. Weigern sie sich hingegen zu schamanisieren, tritt das Leiden verstärkt auf.

Die Berufskrankheit gleicht einem inneren Transformationsprozeß, der auch gegen den Widerstand der jeweiligen Person abläuft. Auch die Familie des zukünftigen Scha-manen wird in Mitleidenschaft gezogen. Es geschehen Mißgeschicke und Unfälle, offensichtlich verlangt die Initiation Opfer, die den Prozeß des Einstürzens und Auflösens der normalen Ordnung noch verstärken. Erst wenn das bisherige Leben (Einstellungen, verhaltensweisen, Moral usw.) vollkommen in Frage gestellt bzw. vernichtet ist, beginnt der Schamane die Wirklichkeit in vollen Zügen zu hören, zu sehen und zu erleben.

Krankheit ist aber nicht das einzige Mittel der Initiation. Es gibt andere Formen von Prüfungen, denen sich die Schamanenanwärter zu unterziehen haben. Zu Ihnen gehört der Aufenthalt in der Wildnis, in Höhlen oder auf Bergen, wo der Novize mit wilden Tieren kämpft, fastet, betet und darauf wartet, von Hilfsgeistern erhört und in die schamanischen Praktiken eingewiesen zu werden. „Vierundsechzig Jahre betrug meine Lehrzeit. In diesen Jahren bin ich viele, viele Male allein in die Berge gegangen. Ja viel Leiden mußte ich erdulden in meinem Leben. Um jedoch sehen zu lernen, hören zu lernen, müßt ihr dies tun: allein in die Wildnis gehen. Denn nicht ich kann euch die Wege der Götter lehren. Diese Dinge lernt man nur in der Einsamkeit.“ (Halifax, J.: Die andere Wirklichkeit der Schamanen, München 1983, S. 15)

Einsamkeit, Angst, Hunger gehören genauso wie die Krankheit zu den Möglichkeiten, vorherrschende Denk- und Verhaltensschemata außer Kraft zu setzen. Wenn die Reiz-vielfalt unserer normalen Wirklichkeit unterbrochen wird, kann die entstehende Monotonie dazu führen, daß psychische Energien freigesetzt werden, um tiefere Schichten des Bewußtseins zu erschließen. Angst und Not genauso wie exzessives Fasten sensiblisieren zusätzliche Energien, die dem Menschen normalerweise nicht zur Verfügung stehen.

Der Schamanen-Novize benötigt offensichtlich diese zusätzlichen Energien, um sich den Zugang zur anderen Wirklichkeit oder zu seinem anderen Ich zu verschaffen. Schamanen werden auch als Meister der Ekstase beschrieben, wenn sie beispielsweise, begleitet von Rasseln oder Trommeln, bis an den Rand der Besinnungslosigkeit oder auch darüber hinaus tanzen. Sie sind dann in einem Zustand, der von Webster als „außer seiner selbst“ definiert wird (Sharon, D.: Magier der vier Winde, Freiburg 1980, S. 80). Die besonderen Prüfungen, denen sich der Initiand zu unterziehen hat, erreichen mitunter groteske Formen.

Eskimo-Schamanen erhalten manchmal die Aufgabe, drei Tage lang einen kleinen Stein auf einem großen Stein im Uhrzeigersinn ohne Unterbrechung zu drehen. Wenn sie dies an einer einsamen Stelle getan haben, erscheint ihnen ein Geist und fragt nach ihrem Begehren. Andere werden fünf Tage im Schneesturm an ein paar Zeltstangen aufgehängt oder ebenso lang im Eiswasser festgehalten. Wenn ihr Hilfsgeist sie beschützt, tragen sie keinen Kratzer davon und werden große Zauberer (Halifax, J.: a. a. 0., S. 19).

Der Hintergrund derartiger gefahrvoller Prüfungen ist in der schamanischen Auffassung zu suchen, daß Menschen, die nichts schlechtes tun, den Tod nicht zu fürchten haben. Sie werden nämlich als Menschen wiedergeboren, während die Bösartigen als wilde Tiere wiederkommen und damit einen Rückschritt erleiden. „Alles Leben, alles Bewußtsein bleibt als solches für alle Zeit erhalten und wird auf die verschiedensten Weisen wiederhergestellt, denn kein einmal gegebenes Leben kann jemals verlorengehen oder zerstört werden.“ (Halifax, J.: a. a. 0., S. 19)

Geister spielen im Leben eines Schamanen eine zentrale Rolle. Was westliche Menschen als Halluzinationen beschreiben, wenn sie in gefahrvollen oder monotonen Situationen mit Begleitern, Helfern oder auch Schreckgespenstern konfrontiert werden, ist für den Schamanen Realität. Sein Glaube an die Geister ist so stark, daß er sie als echte Wesen empfindet, mit denen er einen lebenslangen Pakt schließt. Er erschließt sich offenbar eine Energie- und Informationsquelle, die den sogenannten zivilisierten Menschen verschlossen bleibt, die aber für seine heilende helfende Tätigkeit von größter Bedeutung ist.

„Mit 32 Jahren trafen den Mexikaner Gabriel Mir eine Reihe von Schicksalsschlägen, eine Seuche raffte seine fünf Kinder sowie seine Frau hinweg. Er selbst lag Monate krank danieder und entkam dem Tod mit nur knapper Not… In all diesem Leid erschien ihm eines Nachts eine ganz in Blau gekleidete vier Fuß große Gestalt – ein Zwerg: das mußte wohl San Antonio sein dessen Bild über seinem Hausaltar hing. >Ich komme, um Dir etwas aufzubürden. Du bist krank gewesen, mein Sohn; du warst La Gloria schon sehr nahe!< Der Zwerg wies auf eine unsichtbare Person, die er heilen sollte. Aber er sträubte sich und sagte, er könne und wolle nicht heilen. Dennoch fühlte er den Puls eines Armes, der aus dem Nichts zu kommen schien. Für eine Woche nun erschien ihm jede Nacht die leuchtende Zwergengestalt und zeigte ihm die verschiedenen Heilmethoden. Und jedesmal brachte der Heilige Antonio einen Patienten mit, dessen Körper jedoch nur schemenhaft oder teilweise zu erkennen war. Nach Verlauf der Woche verabschiedete sich der Heilige und sagte, er werde nun selten erscheinen.

Nach dieser einwöchigen Erfahrung kam Gabriel schnell wieder zu Kräften und brachte Haus und Felder in Ordnung. Jetzt gewahrte er Dinge, die er zuvor nie bemerkt hatte. Die Vögel auf den Bäumen sprachen zu ihm, nachts sah er auf dem Friedhof menschliche Köpfe, die sich über dem Boden bewegten und sich mit ihm unterhielten, und Schmetterlinge, so entdeckte er, seien in Wirklichkeit die Seelen der künftigen Babies. Von diesem Zeitpunkt an begann er zu heilen. Dabei sprach er immer im Plural, denn er und sein überirdischer Beschützer heilten gemeinsam. San Antonio blieb immer in seiner Nähe, schrieb ihm Pflanzenmedikamente oder auch solche aus der Apotheke vor und wies ihn in neue Heilweisen ein.“ (Kalweit, H.: a. a. 0., S. 126)

Geister können aus der Tier- und Pflanzenwelt, aus elementaren und himmlischen Phänomenen wie Blitz, Donner, Regen oder Sturm in Erscheinung treten. Sie sind an keine bestimmte Form gebunden, werden im Traum, in der Trance, im Delirium oder auch bei normalem Bewußtsein erlebt. Die Beziehung zu einem Geist unterscheidet sich oft nicht von der Beziehung zu anderen Menschen. Die gesamte Palette der Gefühle von tiefer Zuneigung, Liebe, Haß, Neid, Eifersucht bis hin zur Hörigkeit, Angst, Sucht, findet sich auch in der Beziehung zwischen Schamanen und Geistern wieder. Dabei beschränkt sich das Gefühlsleben nicht nur auf eine zeitweilige und eher oberflächliche Beeinflussung der jeweiligen Person, teilweise finden intime Kontake statt, die einem sexuellen Verhältnis gleichen und sogar zu Vergewaltigungen, Schwangerschaften, Geistehen und -kindern führen.

In Burma fahren besonders geile Geister, die „nats“ in wild tanzende Frauen und Schamaninnen ein und verlangen gewaltsam den Beischlaf. Geschieht dies, muß die Burmesin regelrecht mit dem „nat“ verheiratet werden, was meistens eine Trennung vom weltlichen Gemahl bedeutet, da die „nats“ schrecklich eifersüchtig sind (Gruber, E.: a. a. 0., S. 244). Eine Schamanin der Saora aus Borai wehrte sich zunächst heftig gegen den sie begehrenden Geist, heiratete ihn später jedoch aus lauter Angst und gebar ein Geistkind. Wenn man diese Erfahrungen noch als Illusion abtun kann, so ist doch verwunderlich, daß sich die Nachbarn dieser Schamanin darüber beschwerten, daß das Kind laut schrie, wenn es an die Brust der Mutter kam (Kalweit, H.: a. a. 0., S. 136).

4.2 Der Peyote-Kaktus und andere Rauschdrogen

Wie wird man Schamane? Das Berufungserlebnis, das spontan nach längerer Krankheit, in Träumen oder bei einer transpersonalen Bewußtseinsänderung auftritt, ist ungewollt und wird häufig nur widerwillig akzeptiert. Ekstatisches Tanzen, Fasten, Selbstkasteiung hingegen sind Mittel, mit denen der »Sprung nach drüben« die Entkonditionierung des Ego-Bewußtseins gelingen kann. Allerdings kann niemand durch Anwendung dieser Mittel allein die Entäußerung seiner Selbst erreichen; innere Vorbereitung und Auserwähltsein gehören dazu. „Die wahre Macht erwählt sich den Schamanen.“ (Sharon, D.: a. a. 0., S. 80)

Auch Carlos Castaneda wurde durch ein Omen, das die Regel (so nennt sich die schicksalshafte Macht bei Castaneda) Don Juan offenbarte, auserwählt. Don Juan ließ sich in seinen Entscheidungen ausschließlich von bestimmten Zeichen leiten. Wenn eine Krähe in einem bestimmten Augenblick vorbeiflog, konnte dies ein Zeichen für den Aufbruch, für eine bestimmte Richtung und dergleichen sein. Wer die außerordentlichen Jenseitskräfte auf sich zieht oder mit seiner Seele zu ihnen reist, muß sich in einem inneren und äußeren Gleichgewicht befinden, damit er die Gefahren, die an diesem Weg auf ihn lauern, bestehen kann. Sind seine geistigen, psychi-chen und körperlichen Kräfte, nicht in der Balance, dann wenden sich die Kräfte, die er heraufbeschwört, gegen ihn.

Ramon Medina Silva, ein Huichol-Schamane, demonstrierte einer amerikanischen Anthropologin bei der Überquerung eines gefährlichen Wasserfalls das Gleichgewicht eines Schamanen, so wie auch Don Juan dem verzweifelten Carlos Castaneda eine derartige Lektion erteilt. „Wir gelangten in eine Gegend steiler Schluchten, die ein reißender Wasserfall, der über schroffe, schlüpfrige Felsen einige Hundert Meter in die Tiefe stürzte, in den Stein geschnitten hatte. Am Rand des Wasserfalls zog Ramon seine Sandalen aus und verkündete, dies sei ein besonderer Ort für Schamanen. Dann begann er, von Stein zu Stein über den Wasserfall zu springen, wobei er häufig mit vornübergebeugtem Körper, so ganz wie ein Vogel bewegungslos auf einem Bein in der Schwebe blieb. Er verschwand, tauchte wieder auf, hüpfte herum und erreichte schließlich die andere Seite.“ (Halifax, J.: a. a. 0., S. 30) Ein derartiges Wagnis verlangt Mut, Konzentration, Selbstvertrauen, körperliches Gleichgewicht und Ichlosigkeit.

Wer sich dagegen in Wünschen und Sehnsüchten verstrickt, wer leidenschaftlich egoistische Ziele verfolgt, zaudert, zögert, hadert, der gelangt nicht zu dieser inneren Harmonie, die ihm Gelassenheit und Geborgenheit schenkt. Wilde Tiere und andere Gefahren, denen der Schamane auf seinen Reisen begegnet, sind nicht anderes als Ängste vor dem Egoverlust. Wer diese Angst bändigt, kann den Gefahren ohne Furcht ins Auge sehen. Die psychische Balance ist jedoch für den Schamanen nicht nur wichtig, um die beschworenen Geister in Schach zu halten, sondern auch Voraussetzung für seine Heilfähigkeiten.

Heilung bedeutet nichts anderes, als die Kräfte des Patienten in ein richtiges Verhältnis zueinander zu bringen. Um derartige Ungleichgewichte erkennen und verändern zu können, muß der Schamane zunächst sein eigenes Gleichgewicht erreicht haben. Die Überquerung des Wasserfalls hilft ihm dabei, seine innere Harmonie zu überprüfen. „Man geht hinüber; es ist sehr schmal, und ist man ohne Gleichgewicht, wird man von den Tieren gefressen, die in der Tiefe warten.“ (Halifax, J.: a. a. 0., S. 31)

Ein aus der Magie bekanntes Mittel, Bewußtseinsänderungen hervorzurufen, sind Drogen. Eduardo, ein peruanischer Schamane, spricht davon, daß Zauberpflanzen eine Seele haben, mit der sie sprechen und heilen können. Sie beraten den curandero (Heiler) bei der Behandlung der Kranken und warnen vor Gefahren. Ihre magische Kraft entfaltet sich durch eine energetische Wechselwirkung zwischen Schamanen und Pflanze. Im Grunde ist die Macht der Zauberpflanzen eine Projektion der eigenen inneren Kraft des curandero, die durch die Wirkung der Pflanze katalysiert wird (Sharon, D.: a. a. 0., S. 64).

„Wenn du träumst, so hast du noch keine Vision, denn jeder kann träumen. Und wenn du ein Kraut nimmst, nun gut, auch ein Metzgergeselle hinter seiner Ladenkasse hat eine Vision, wenn er Peyote ißt. Die richtig Vision kommt aus den eigenen Säften. Sie ist kein Traum. Sie ist völlig real. Sie trifft dich scharf und klar wie ein elektrischer Schock, sagt Lame-Deer, der Sioux-Schamane.“ (Gruber, E.: a. a. 0., S. 147)

In Peru gilt seit 3000 Jahren der San-Pedro-Kaktus als Heilpflanze. Nach der relativ einfachen Zubereitung wird der Kaktus als Getränk eingenommen und verursacht zunächst ein leichtes Schwindelgefühl, dann eine Verstärkung aller Sinnesempfindungen, verbunden mit einem Gefühl der Gelassenheit und Losgelöstsein, Der Patient kann allerdings auch erbrechen oder stark schwitzen. Der Trank öffnet sein Unterbewußtsein wie eine Blume; Blockaden lockern sich, und das Problem tritt offen zutage. Er muß mit diesem Problem womöglich kämpfen, windet sich am Boden oder beginnt automatisch zu tanzen.

Der Heiler reist derweil, ebenfalls von der Zauberpflanze berauscht, ins Geisterreich, besucht heilige Seen oder Berge, kämpft gegen wilde Tiere oder Dämonen und versucht die Ursachen der Krankheit zu ergründen und zu besiegen. Sein Flug ist ein geistiger, trotzdem nimmt er das einseitige Panorama wahr, als wäre er an Ort und Stelle (Sharon, D.: a. a. 0., S. 75).

Ebenfalls magische Pflanzen sind bestimmte Tabaksorten, Pilze oder Bohnen. Als besonders wirkungsvoll gilt bei den mexikanischen Indianern ein Kaktus, das Peyote, das auch Don Juan besonders schätzt. Diese Pflanze enthält, wie der San-Pedro-Kaktus, Meskalin und daneben noch dreißig andere Alkaloide. Peyote kann Zukünftiges entschlüsseln, lenkt und schützt den Schamanen auf seiner gefährlichen Pilgerreise ins Unbekannte und enthüllt die wahre Natur der Dinge (Gruber, E.: a. a. 0., S. 148).

Die Drogenerfahrung wird von den Yebámasa im Amazonasgebiet in drei Stadien unterteilt. Zuerst erstrahlt alles in helleren Farben als gewöhnlich, bunte Linien flattern durch die Luft; dann erscheinen Dinge, die sonst nicht vorhanden sind, und schließlich treten Götter und Dämonen auf, man reist durchs Universum und ergründet das Geheimnis der Welt (Kalweit, H.: a. a. 0., S. 167).

Ein Anthropologe, der solche Drogen ausprobiert hat, fühlte sich in drei Egos aufgesplittert: ein Körper-Ego; ein Gefühls-Ego und ein spirituelles Ego. Im wesentlichen nahm er mit seinem spirituellen Ego wahr: „Ich sah unmittelbar mit meinem Gehirn, nicht mit meinen Augen. Ich sah mit meinem Bewußtsein. Und was ich sah, war in sich selbst reiner Geist. Ich sagte mir selbst: >Oh, das ist reine Spiritualität.< Und ich verstand jene Mystiker, die über die Vermählung der Seele mit Gott geschrieben haben.“(Kalweit, H.: a. a. 0., S. 167)

Im Inneren eines Schamanen tun sich ohnehin erstaunliche Dinge. Er beginnt zu leuchten. Zunächst im Kopf, später am ganzen Körper. Mit diesem glühenden Feuer kann er mit geschlossenen Augen in der Dunkelheit sehen, gelangt hinter die verborgenen Dinge, in die Zukunft oder in die Geheimnisse eines anderen Menschen. Nachteilig ist, daß dieses Licht offensichtlich bis in die Gefilde der Verstorbenen reicht und deren Geister wie Motten anzieht. Sie kommen in Scharen, baden in diesem Licht und laben sich an der Kraft und dem Wissen des Schamanen.

Viele Völker gehen, wie bereits im Zusammenhang mit der Magie gesagt, davon aus, daß jeder Mensch, sogar Tiere und Pflanzen, einen Lichtkörper als Aura um sich hat. Dieser Geistkörper, auch Seele genannt, verläßt den Menschen nach seinem Tod, irrt einige Zeit umher, bis er sich an den Körperverlust gewöhnt hat, und geht dann, je nachdem wieviel Gutes der Mensch in seinem Leben vollbracht hat, für immer in das Land der Seelen oder in ein Niemansland zwischen Totenreich und Erde, um sich aufs neue zu manifestieren.

Die Seele kann aber der Schamane auch zu Lebzeiten aus dem Körper schicken, mit dem sie allerdings durch ein hauchdünnes Band (Silberschnur!) verbunden bleibt. Die Loslösung der Seele vom Körper ist auch ungewollt möglich, wenn der Schamane jemanden zu lange anstarrt, sein Spiegelbild betrachtet oder sich beim Geschlechtsverkehr zu sehr erregt. Diese Handlungen erfordern Konzentration, wodurch sich eine Bewußtseinsveränderung ergeben kann, die die Seele hinaustreibt.

Weitere Möglichkeiten, den Seelenkörper abzuspalten, ergeben sich im Schlaf, im Traum, bei Schocks, Angst, Bewußtlosigkeit, Krankheit und Gemütsbewegungen allgemein (Kalweit, H.: a. a. 0., S. 139).

In der pazifischen Inselwelt unterscheidet man zwischen Seelen gerade Verstorbener, die manchmal auch noch Verwandte mit ins Jenseits nehmen; Gespenstern oder Spukgeister, die als verlorene oder umherwandernde Seelen ihr Unwesen treiben, und Totenseelen, die auf weitere Entwicklungsstufen warten.

Die Seele besteht aus feinstofflicher Materie, die allen Dingen anhaftet, mit denen sie in Berührung gekommen ist. Fingernägel, Haare, Kleidung usw. können deshalb für Diagnosen aller Art wie auch für negative Beeinflussungen des Eigentümers verwendet werden. Schließlich erhält die Seele »auf extra sensorische und akausale Weise Informationen, da sie nicht raum- und zeitgebunden ist. Sie erkennt Dinge über große Entfernungen hinweg, reist schnell in fremde Länder und kann mit mythischen Wesen verkehren.“ (Kalweit, H.: a. a. 0., S. 41)

Der Übergang vom Leben zum Tod erfolgt oft unmerklich. Das Bewußtsein stolpert gleichsam weiter, während der Körper liegenbleibt. Aus dem Bericht über die Todeserfahrung und die anschließende Reinkarnation eines Winnebago-Indianers geht hervor, daß dieser den tödlichen Streich während eines Kampfes gar nicht bemerkte, sondern weiterkämpfte und erst, als er seinen eigenen Körper auf dem Schlachtfeld erkannte, wußte, daß er gefallen war. Nach dieser Erkenntnis versuchte er, zu Hause mit seiner Frau und seinen Kindern Kontakt aufzunehmen, die ihn jedoch nicht bemerkten und durch ihn hindurchgingen.

Schamanen sind Meister der Seele, die im übrigen ihr Können nicht nur zum Guten, sondern auch zum Bösen anwenden und damit zu schwarzen Zauberern und Magiern werden. Da sie damit automatisch in geistige Disharmonie geraten, wachsen auch die Gefahren, daß sie den beschworenen Kräften unterliegen. Die Bedeutung des Schamanismus liegt jedoch auf seiner guten, das heißt weißen Seite. Die Kunst, zu heilen, Frieden zu stiften und als Kanal für die jenseitigen Kräfte zu dienen, ist seit Jahrtausenden in vielen Kulturen das Bestreben des Schamanen.

Nicht ganz so alt wie der Schamanismus, aber näher an unserem eigenen kulturellen Erbe ist die Mystik westlicher Prägung. Hier wird noch deutlicher, daß im Grunde alle esoterischen Lehren einen gemeinsamen Grund haben. Magie, Mystik, Religion sind Seiten des gleichen Strebens, willentlich eine Art Transzendierung oder Bewußtseinsveränderung zu erreichen.

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