Das Ding an sich

Teil 1: Von Meister Eckardt bis Carlos Castaneda
Reise durch eine andere Wirklichkeit

6. Alchimie – Die Kunst des Goldmachens

Während Mystik und Yoga den inneren Pfad geistiger Entwicklung vorschreiben, scheint Alchimie, zumindest im allgemeinen Bewußtsein, in die entgegengesetzte Richtung zu weisen. Umwandlung von Blei in Gold, Stein der Weisen, Lebenselexier sind Stichworte, die man im allgemeinen mit Alchimie verbindet. Tatsächlich dürfte die Mehrzahl der Adepten dieser „Wissenschaft“ dem besagten Glauben aufgesessen und von der Hoffnung beseelt gewesen sein, aus unedlem Metall Silber und Gold herzustellen oder das Elixier zu entdecken, mit dem sich die Unsterblichkeit erlangen ließe.

Die Alchimie ist uralt und in allen Kulturen verbreitet. Ihr Begründer Hermes Trismegistos soll vor mindestens 2500 Jahren die Formel zur Herstellung des Steins der Weisen in eine Smaragdtafel eingraviert haben. Danach bilden die vier Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde zusammen mit Quecksilber und Schwefel. später noch Salz, die zur Gewinnung des Steins der Weisen notwendigen Zutaten (Coudert, A.: Der Stein der Weisen, München 1980, S. 30).

Was hat es mit dem Stein der Weisen auf sich? Ein moderner Alchimist gibt folgende Definition: „Der Stein der Weisen bildet ein energisches Reinigungs- und Stärkungsmittel für das Blut und heilt, innerlich genommen jede wie immer geartete Krankheit. Auf Pflanzen angewendet, läßt er sie in wenigen Stunden wachsen, reifen und Früchte tragen. Geschmolzenes Blei und Quecksilber, auf das man eine entsprechende Menge des Steins in Pulverform wirft, wird in Gold verwandelt. Diese drei Wirkungen bilden eigentlich nur eine einzige: Erhöhung der Lebenskraft. Der Stein der Weisen ist also ganz einfach eine gewaltige Kondensation von Lebenskraft in einer kleinen Menge von Materie.“ (Archarion: Von wahrer Alchimie, Freiburg 1983, S. 247)

Das Weltbild der Alchimie beruht auf dem sogenannten animistischen Prinzip, nach dem alle Dinge dieser Welt beseelt sind, daß heißt aus Geist, Seele und Körper bestehen, und nach dem es nur eine einzige göttliche Seelensubstanz gibt, die unendlich viele materielle Formen annehmen kann. Durch Auflösen und Verändern dieser Formen, ein ohnehin in der Natur ständig ablaufender Vorgang mit dem Ziel der Veredlung und Anreicherung sollen Stoffe und Mittel zur Umwandlung der Materie geschaffen werden.

Gold, als edelstes der Metalle, gilt als Hauptziel aller Umwandlungen, jedenfalls für die Vertreter der äußeren Alchimie, neben dem es noch eine innere Alchimie gibt, wie einen äußeren und inneren Stein der Weisen. Daß sich außer der Wandlung der Materie auch eine Transmutation des Geistes vollziehen sollte, war offensichtlich nur wenigen Alchimisten klar. Die meisten haben sich wohl in der Hoffnung auf Reichtum und Unsterblichkeit ans Werk gemacht, ohne zu wissen, daß die Übung eine Umwandlung des Experimentierenden selbst zum Ziel hatte. Vermutlich bestand sogar die Auffassung, daß das Ziel der äußeren Alchimie nur erreicht werden könne, wenn sich gleichzeitig eine innere Wandlung oder auch „Vergoldung“ im Sinne von Erleuchtung vollzog.

Wer darauf bedacht war, den Stein der Weisen herzustellen, um in den Besitz von Gold zu gelangen, gab sich vergeblich Mühe hin, mehr noch: Wer sich nicht vorsah und wenig Geduld und Fleiß aufbrachte, konnte sich schwere Schäden zuziehen. Die häufige Verwendung von Quecksilber kann zu schweren Schädigungen führen. Arsen, Blei und teilweise hochexplosive Stoffe nicht weniger. Der Typische Arbeitsprozeß eines Alchimisten sah wie folgt aus: Ehe er seine wichtigsten Handwerkzeuge, Ofen, Schmelztiegel, Waagen und Meßinstrumente, einsetzen wollte, mußte er zunächst die alten alchimistischen Texte studieren, die aus Gründen der Geheimhaltung so angelegt waren, daß sie systematisch geistige Verwirrung stifteten und nur unter Einsatz von Geduld, Demut und Glaube ihr Geheimnis enthüllten (Pauwels, J. /Bergier, L.: a. a. 0., S. 155).

Im ersten Arbeitsgang stellt der Alchimist in einem Achatmörser eine Mischung aus drei Substanzen (Mineral, Metall und Säure) her. Über fünf bis sechs Monate, möglichst ohne größere Pause, muß diese Mischung zerstoßen und vermischt werden. Dann wird sie zwölf Tage lang in einem Schmelztiegel erhitzt und darauf mit Hilfe eines geeigneten Mittels in polarisiertem Licht, etwa Mondlicht, aufgelöst. Der Alchimist wartet, bis der Flüssige Teil verdunstet, und beginnt dann von neuem, den restlichen Teil erst auszuglühen und dann aufzulösen. Diese Prozedur muß unter Umständen jahrelang und viele Tausende Mal in immer derselben Weise durchgeführt werden. Die Wiederholungen hatten wohl den einen Zweck, einen günstigen Augenblick zu erwischen, in dem alle Randbedingungen wie kosmische Strahlung, Planetenstand, Erdmagnetismus, „Ermüdung“ des Materials und auch der geistige Entwicklungsstand in einem optimalen Verhältnis zueinander standen. Eines Tages kommt der Alchimist zu der Überzeugung, daß der geeignete Augenblick gekommen ist, und fügt seiner Mischung ein Oxydiermittel, z.B. Kaliumnitrat, hinzu. Diese neue Mischung muß nun wieder, vielleicht jahrelang, ausgeglüht und aufgelöst werden, bis sich auf der Oberfläche des Materials ein symbolisches Zeichen erkennen läßt. Dann schützt der Alchimist die Mischung vor Luft und Feuchtigkeit, läßt sie bis zum ersten Tag des nächsten Frühlings „reifen“ und verpackt sie in einen durchsichtigen Behälter aus Bergkristall, der hermetisch verschlossen wird. Wieder erhitzt er die Mischung über Monate und Jahre, läßt sie erkalten und beobachtet den Inhalt, der sich allmählich in eine blauschwarze Flüssigkeit verwandelt. Am Schluß dieser Prozedur öffnet der Alchimist, wenn er durchgehalten hat, den Bergkristall in einem dunkeln Raum und erhält nach Abkühlung der fluoreszierenden Flüssigkeit einen völlig neuen Stoff, der zusammen mit dreifach destilliertem Wasser das berühmte Lebenselexier oder den Stein der Weisen darstellt.

Über das Verfahren soll sich vor einigen Jahrzehnten ein Alchimist im Lichte heutiger Erkenntnisse so geäußert haben: „Es ist Ihnen bekannt, daß in der offiziellen fortschrittlichen Wissenschaft dem Beobachter eine immer wichtigere Rolle zufällt. Das Relativitätsprinzip und die Unbestimmtheitsrelation zeigen Ihnen, wie weit der Beobachter heute selber gewissermaßen ein Teil der beobachteten Phänomene ist. Dies aber ist das Geheimnis der Alchimie: Es besteht eine Möglichkeit, mit der Materie und der Energie so zu verfahren, daß sich das bildet, was die heutigen Wissenschaftler als Kraftfeld bezeichnen würden. Dieses Kraftfeld wirkt auf den Beobachter ein und versetzt ihn dem Universum gegenüber in eine bevorzugte Lage. Von diesem privilegierten Punkt aus hat er Zugang zu Realitäten, die uns gewöhnlich durch Raum und Zeit, Materie und Energie verborgen sind. Die Erreichung dieses Zustandes ist das, was wir das >große Werk< nennen.“ (Pauwels, J. /Bergier L.: a. a. 0., S. 148)

Nur unter der Voraussetzung, daß der Stein der Weisen herstellbar ist, wird die Geheimnistuerei der Alchimisten, werden ihre schriftlichen und bildhaften Arbeitsanweisungen verständlich. Die gesamte Literatur ist voller Symbole, deren Bedeutung sich erst nach langen Studien erschließt. Wer eine kurzfristige Verwertung im Sinn hat, wird enttäuscht. Die Verwendung von Symbolen hat noch einen anderen Sinn. Für den Alchimisten ist die Welt ein Netzwerk von Beziehungen. Jedes Ding, auch jedes Bild oder Symbol von Ihm ist sowohl vertikal wie horizontal mit anderen Dingen oder Symbolen verknüpft. Die horizontale Verknüpfung ist uns vertraut: Affe, Maus, Elefant und Tintenfisch haben gemeinsam, daß sie Tiere sind. Was verbindet aber Blei, Efeu, Rabe, Skelett, Kloster, alt und schwarz?

Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir uns mit der esoterischen Theorie der Urprinzipien beschäftigen, die alle alten Wissenschaften, vor allem auch der Astrologie, zugrunde liegt (Dethlefsen, T.: SchNsal als Chance, München 1979, S. 94).

Wenn ein Maler ein Bild malen oder ein Schriftsteller einen Roman schreiben will, brauchen sie zunächst eine Idee, um sie materiell realisieren zu können. Bewußten Handlungen geht stets eine Idee oder eine Vorstellung voraus. Handeln wir impulsiv, ohne zu denken, ist die Idee als Programm in uns gespeichert, und wir führen sie aus, ohne daß wir uns bewußte Gedanken machen.

Die Esoterik geht davon aus, daß die gesamte Welt zunächst in Form von sieben Ideen oder Urprinzipien vorhanden war, die sich in realen Manifestationen widerspiegeln, wie die Idee im Bild des Malers. Diese Urprinzipien materialisieren sich nicht horizontal, etwa als Tiere, Mineralien oder Menschen, sondern vertikal durch alle Bereiche des Universums. Das heißt, wenn wir ein Urprinzip, etwa Struktur, Hemmung, Zeit, kennen, können wir die Wirkung des Prinzips auf allen Ebenen unseres Daseins verfolgen.

Da der gestirnte Himmel, der ebenfalls dazu gehört, durch seine übersichtliche Struktur besonders gut zu beobachten ist, wurden einige Planeten so wie Sonne und Mond dazu auserwählt, sozusagen die Repräsentanten dieser Ideen darzustellen. Zu Blei, Efeu, Rabe, Skelett usw. gesellt sich also noch der Saturn und das saturnische Ideenprinzip der Hemmung, der Struktur und der Zeit. Mars ist ein anderes Urprinzip, das durch Energie und Impuls definiert ist; zu ihm gehören Eisen, Brennessel, Raubtiere, Muskeln, Entzündungen, Schlachtfeld, Soldat sowie die Farbe rot.

Die Alchimisten richteten ihr Verhalten nach dem Stand der Gestirne, um die günstigste Stunde zu erkennen und nicht durch unangemessene Handlungen den Zorn der Götter auf sich zu ziehen; mit Götter sind die Urprinzipien gemeint. Symbole und Bilder, die auch in der Magie eine große Rolle spielen, sollten als Repäsentanten bestimmter Prinzipien und Ebenen einen größtmöglichen Wirkungsgrad erzielen und das „große Werk“ beschleunigen.

C. G. Jung wies nach, daß die alchimistische Symbolik auf bestimmten archetypischen Prinzipien beruht, die wir mit den Urprinzipien identisch sind (Jung, C. G.: Psychologie und Alchimie, Freiburg 1984). Auch in „normalen“ Träumen tauchen diese Symbole auf und lassen den Zusammenhang zwischen Traum und Wirklichkeit erkennen. Das kollektive Unbewußtsein verbindet uns durch Zeit und Raum. Kehren wir zu den praktischen Möglichkeiten der Alchimie zurück.

Über den Stein der Weisen berichtet Johann Baptist van Helmont (1579-1644): „Ich kann nichts anderes als daran glauben, daß es den Stein, der Gold und Silber macht, gibt… Denn ich habe ihn wahrlich verschiedene Male gesehen und ihn mit meinen eigenen Händen angefaßt… Farblich glich er dem Safranpulver, jedoch war er schwer und leuchtete wie pulverisiertes Glas. Einmal gab man mir den vierten Teil eines Kornes. Ein Korn nenne ich den sechshundersten Teil einer Unze. Dieses Viertel eines Kornes projizierte ich deshalb, in Papier eingewickelt, auf acht Unzen Quecksilber, welche in einem Tiegel erhitzt worden waren, und sofort kam das ganze Quecksilber nicht ohne einen gewissen Lärm zum Stehen, und, nachdem es geronnen war, fügte es sich zu einem gelben Klumpen. Beim Ausgießen fanden wir 8 Unzen und ein bißchen weniger als 11 Körner reinen Goldes.“ (Coudert, A.: a. a. 0., S. 55)

Ein holländischer Arzt namens Jan Fridericus Helvetius berichtet über seine Begegnung mit einem Alchimisten, der ihm nach langem Zögern drei kleine Steinbrocken zeigt, „durchsichtig und leicht schwefelfarben“, die 20 Tonnen Gold wert sein sollen. Helvetius bittet den Fremden um ein kleines Stück. Schließlich läßt dieser sich herbei, einen Krümel abzugeben. Als er sieht, daß Helvetius enttäuscht ist, nimmt der Fremde den Krümel wieder an sich, teilt ihn mit dem» Fingernagel in zwei Teile, wirft einen davon ins Feuer und gibt den Rest mit den Worten zurück: „Es ist immer noch genug für Euch.“ Helvetius nimmt ihn dankbar an. Dieses winzige Stück soll über eine halbe Unze Gold ergeben haben, als man es mit Blei vermengte, und ein Goldschmied soll es als das exzellenteste Gold der Welt eingeschätzt haben (Coudert, A.: a. a. 0., S. 59).

Über die zeitliche Dauer des alchimistischen Werkes haben wir unterschiedliche Angaben. Sicher sind viele Alchimisten ihr Leben lang nicht fertiggeworden. In manchen Fällen soll bereits nach Monaten die Transmutation geglückt sein. Dem „Geheimen Werk der Hermetischen Philosophie“ kann man die geistigen und charakterlichen Anforderungen entnehmen, die an den zukünftigen Naturforscher gestellt werden und die die Verwandtschaft mit der Magie und anderen esoterischen Lehren erkannen lassen.

„Der angangende Lehrschüler dieser Kunst soll scharfsinnig, beständigen Gemüts, und dieser Philosopie ganz eifrigst ergeben sein, auch soll er in der Physik erfahren, reinen Herzens, guter Sitten und Gott ergeben sein, und, wiewohl er in den cymischen Arbeiten wenig erfahren, soll er doch getrost den königlichen Weg der Natur antreten, aufrichtiger Leute Bücher lesen, einen getreuen Gesellen suchen und am glücklichen Ausgang keineswegs zweifeln. Er soll dem Gebet fleißig obliegen, Werke der Liebe üben, weltliche Händel nicht achten, der Leute Zusammenkünfte meiden und stille Ruhe lieben, auf daß sein Gemüt in der Einsamkeit desto ungehinderter nachforschen und hoch erhoben werden könne.“ (Archarion: a. a. 0., S. 24)

Im Regelfall hat sich mit Beendigung des „großen Werks“ eine positive Wandlung im Alchimisten durchgesetzt. Eine materielle Verwertung des Zielproduktes ist nicht mehr attraktiv. Die lange Zeit der Herstellung mit ihren monotonen, normalen Zwecken enthobenen Handlungsformen haben einen Aufstieg zu höheren geistigen Ebenen ermöglicht: Wie die Materie gereinigt und veredelt worden ist, hat sich im Alchimisten selbst eine Läuterung vollzogen, die seine Erkenntnismöglichkeiten über die Geheimnisse der Materie hinaus in die Unendlichkeit erweitern. Er ist selbst ein Stein der Weisen geworden, der für ihn sowohl Anfang wie auch Ende bedeuten kann. „So stellt der Stein der Weisen die erste Stufe dar, die dem Menschen helfen kann, sich zum Absoluten zu erheben. Jenseits dieser Stufe beginnt das Geheimnis. Und diesseits von ihr gibt es kein Geheimnis, keine Esoterik, keine anderen Schatten als diejenigen die unsere Wünsche und vor allem unsere Überheblichkeit werfen. Aber ebenso wie es viel leichter ist, sich mit Ideen und Worten zufrieden zu geben, als etwas mit seinen Händen, mit Schmerzen und Anstrengungen im Schweigen und in der Einsamkeit zu vollbringen, ist es auch bequemer, in sogenannten „reinen“ Gedanken seine Zuflucht zu suchen, als zu ringen.

Die Alchimie untersagt ihren Schülern jede Ausflucht dieser Art. Sie stellt sie Auge in Auge mit dem großen Rätsel gegenüber… Sie verspricht uns nur eins: Wenn wir unablässig kämpfen, um uns von der Unwissenheit zu befreien, wird schließlich die Wahrheit selbst für uns kämpfen und am Ende den Sieg über alles erringen. Dann wird vielleicht die wahre Metaphysik beginnen.“ (Pauwels, L. / Bergier, J.: a. a. 0., S. 164)

Wer Castaneda gelesen hat, wird Don Juan heraushören. Sich von Gedanken an die eigene Wichtigkeit befreien, das Leben als beständigen Kampf ansehen und Wissender werden, das sind die immer wieder betonten zentralen Elemente seiner Lehre. Bevor wir das Werk Castanedas in Augenschein nehmen, noch ein Ausflug in die heute so oft beschworene östliche Gedankenwelt, deren Zen-Buddhismus eine Parallele zur westlichen Mystik Meister Eckhardts und zur Lehre Don Juans darstellt.

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