Das Ding an sich

Teil 1: Von Meister Eckardt bis Carlos Castaneda
Reise durch eine andere Wirklichkeit

1. Einführung

Wer gelegentlich die eine oder andere Buchhandlung besucht, dürfte in den letzten Jahren erstaunt festgestellt haben, daß sich im Angebot eine Literaturgattung breitgemacht hat, die man im weitesten Sinne als Esoterik bezeichnet. Leben nach dem Tod, Positiv Denken, Geistheilung, Das Buch der Geister, Kreativ Träumen, Rebirthing oder Tarot sind Themen, für die sich immer mehr Menschen interessieren. Viele Menschen, die mit wachsender Irritation diese Entwicklung aus der Distanz beobachten, können nicht verstehen, was es mit dem Gerede von Ganzheit, geistiger Energie oder Erleuchtung auf sich hat. Leute wie Baghwan oder Uri Geller waren mit ihrer offensichtlichen Scharlatanerie denn auch ein gefundenes „Fressen”. Mit dem Tod ist das Leben zu Ende und das war’s. Basta!

Wissen ist Macht. Mit diesem Slogan war schon zu Beginn der Neuzeit die rationale Wissenschaft, vor allem die Naturwissenschaft, auf den Plan getreten und hatte dem Aberglauben, den Mythen und Märchen den Kampf angesagt. Kalter Intellekt, Logik, technischer Fortschritt, gepaart mit Größenwahn, Industrialisierung und Kapitalismus beherrschten die Vorstellungen. Gefühle, Intuitionen und Visionen wurden abgedrängt, negiert, geleugnet. Natürlich gelang diese emotionale Verdrängung nie vollständig. Die unterdrückten Emotionen entluden sich in Kriegen und Revolutionen. Magie, Mystik und Alchimie gingen in den Untergrund, wo sie sich ohnehin wohler fühlen als auf dem Marktplatz der Sensationslust.

Die offizielle Religion blieb aufgrund der Verbindung von Kirche und Staat unangetastet, wenn auch ihr Gedankengut unter dem Einfluß einer positivistischen Geisteshaltung an Wert verlor. Weitgehend unbeachtet von der breiten Öffentlichkeit, vor allen hinsichtlich der praktischen Konsequenzen, hat gerade die Naturwissenschaft, die noch im letzten Jahrhundert der Auffassung war, daß die Welt einem Uhrwerk gleicht, den Umschwung von der rationalen, materialistischen Betrachtungsweise zur Wiederverzauberung auf einer transzendenten Ebene eingeleitet. Als Urheber dieses Paradigmawandels können wir Einstein ansehen, der 1906 mit der Veröffentlichung der Allgemeinen Relativitätstheorie zunächst eine wissenschaftliche Revolution auslöste. Auf einmal war das von Newton so schön geordnete Weltbild aus den Fugen geraten. Zeit und Raum waren keine beständigen Einrichtungen mehr, nach denen sich jeder im gleichen Maße im Weltall orientieren konnte. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft waren austauschbar; Zeit läuft mal schneller, mal langsamer; Raum ist mehr oder weniger gekrümmt.

Es dauerte ein halbes Jahrhundert, bis die Wirkung dieser modernen, aber erwiesenen Märchen im Bewußtsein einer größeren Öffentlichkeit zu verspüren war. Neugierig auf die Entdeckungen der neuen Physik, stürzten sich viele Menschen auf dieses Thema, produzierten Bücher und trugen dazu bei, daß sich diese Erkenntnisse weiter verbreiteten.

Wenn Wissenschaftler wie der Physiker F. Capra zudem behaupten, die Erkenntnisse der modernen Physik seien in östlichen Weisheitslehren bereits seit Jahrtausenden enthalten, dann setzt bei vielen Menschen ein Denkprozeß ein, der auf die Frage hinausläuft, ob möglicherweise das bisherige Weltbild überholt ist. Erst zaghaft, um sich nicht lächerlich zu machen, später begierig, interessiert und fasziniert, erschließt sich der Einzelne eine Welt, die er bisher übersehen oder besser: geleugnet hat. Er entdeckt, daß die Wirklichkeit mehr ist, als er mit seinen Augen und Händen sehen und erfassen kann; daß sie geheimnisvoll und phantastisch ist, kurz: daß sie anders ist als die geläufige Wirklichkeit.

Diese andere Sichtweise beginnt schon, wenn man sich klar macht, daß das von den Augen vermittelte Bild, das wir für das reale Abbild unserer Umwelt halten, physikalisch gesehen eine Illusion ist. Daß uns die Welt licht und bunt erscheint, verdanken wir Schaltstellen im Gehirn, das ankommende Signale in Farberlebnisse umwandelt, obwohl außerhalb von uns keine Farben, nicht einmal Licht existiert. Die Lichtrezeptoren unserer Augen erhalten lediglich elektromagnetische Wellenimpulse bestimmter Frequenzen. Radio- und Fernsehsignale, Infrarot- und Echostrahlen sind ebenfalls elektromagnetischer Natur, und trotzdem können wir sie nicht sehen. Die Evolution hat es so eingerichtet, daß unser Gehirn auf einer bestimmten Wellenlänge sozusagen das Licht einschaltet, so daß wir Gegenstände erkennen, die wir ohne Augen nur ertasten oder erfühlen könnten. Diese Fähigkeit hilft uns zu überleben; Realität in dem Sinne, daß sie ohne uns, so wie wir sie wahrnehmen, bestünde, vermittelt sie uns nicht. Ohne Beobachter gibt es weder Licht noch Schatten.

Die Vorstellung, daß die schöne bunte Welt eigentlich nur in unserem Kopf existiert und wir im Grunde auf etwas Unbeschreibliches schauen, ist sicherlich schwer begreifbar. Das gleiche gilt im übrigen auch für Töne. Auch der Schall hat einen wellenförmigen Charakter. Lediglich winzige Druckunterschiede der Luftmassen pflanzen sich vom Ursprungsort fort und werden über das Ohr im Gehirn zu Geräuschen verarbeitet. Ohne diesen Umwandlungsapparat würde niemand den wundervollen Melodien eines Mozart lauschen können, weil sie als solche gar nicht existieren. Es ist mehr oder weniger unsere Phantasie, die uns zu diesen Eindrücken verhilft. Klänge an sich existieren nicht.

Diese Abhängigkeit der Erscheinungsform der Wirklichkeit von der subjektiven Interpretation ist nicht nur ein zentrales Element von Religionen und Weisheitslehren, sondern auch der modernen Wissenschaft. In der neuen Physik, besonders in der Relativitätstheorie und der Quantenphysik, hat die Beobachtung eine fundamentale Bedeutung. Je nach Standort des Beobachters, wobei auch seine Geschwindigkeit eine Rolle spielt, können sich räumliche und zeitliche Verzerrungen ergeben, die im Extremfall entweder gegen Null oder unendlich tendieren. Der Raum kann in schwarzen Löchern verschwinden, selbst Vergangenheit und Zukunft sind austauschbar. Eine wundervolle, aber auch höchst schwankende Welt ist es, auf der wir leben. Nichts ist wirklich von Bestand, alles ist im Fluß, auf nichts ist Verlaß. Selbst die Materie, aus der wir selbst bestehen, wird bei näherer Untersuchung immer durchscheinender, sie verflüchtigt sich. Übrig bleibt reine Energie, von der man nur weiß, daß sie etwas in Bewegung setzen kann. Aber wenn dieses Etwas auch (gespeicherte) Energie ist, dann treibt also Energie Energie an. Klingt das nicht absurd?

Als wesentliche Erkenntnis aus dieser gleichsam bodenlosen Weltsicht sollten wir festhalten, daß weder subjektives Wahrnehmungsvermögen noch objektivierende Wissenschaft ein unumstößliches Wirklichkeitsbild liefern können, in dem zwei und zwei vier ist, alles überschaubar und verständlich ist und alles, wie man so schön sagt, mit rechten Dingen zugeht. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung lassen vielmehr erkennen, daß unsere Welt mit jeder Erkenntnis nur noch geheimnisvoller wird.

Das ist die Kernfrage dieses 1. Teils der Trilogie: Gibt es eine andere Wirklichkeit als die, die wir kennen, und könnte diese Wirklichkeit die sein, die von Religionsstiftern, Magiern und Weisen beschrieben wird?

Selbst wer der Ansicht ist, für ihn habe nur Gültigkeit, was sich wissenschaftlich beweisen lasse, muß einräumen, daß auch wissenschaftliche Beweisführung nicht verhindern kann, daß sich fundamentale Probleme wie die Dualität von Teil­­chen und Welle (vgl. Ditfurth, H. v.: Wir sind nicht nur von dieser Welt, Hamburg 1981, S. 156) oder die Beschaffenheit und Energie nicht erklären lassen und andere wie die Relativität von Raum und Zeit oder die Raumkrümmung nicht vorstellbar sind. Das legt den Schluß nahe, daß noch andere Phänomene existieren können, die ebenfalls außerhalb unseres Anschauungsvermögens liegen und trotzdem Bestandteil der realen Welt sind und als solche auf uns einwirken. Es gibt manche Phänomene, denen das Leben seit Urzeiten ausgesetzt ist, beispielsweise das UV-Licht der Sonne oder Radiowellen aus fernen Galaxien, Radarstrahlen und vieles mehr, das wir erst heute aufgrund unserer technischen Errungenschaften wahrnehmen können. Mit Sicherheit gibt es noch vieles, was wir nicht wissen und vielleicht niemals erfahren werden. Religionen und Glaubenslehren, Berichte über paranormale Vorgänge, magische Rituale usw. gehören in diesen Bereich, der offensichtlich schon immer zum Leben fast aller Menschen gehörte.

Es mag befremdlich sein, daß hier Religion, Magie und Parapsychologie in einen Topf geworfen werden. Als empirisch orientierte Verstandesmenschen lehnen wir den Glauben ab, solange sich sein Inhalt nicht beweisen läßt. Dabei glauben wir selbst an das, was uns unsere fünf Sinne über die Außenwelt vermitteln, obwohl wir heute wissen, daß diese Anschauung nicht die wirkliche Welt abbildet. Deshalb sollte auch niemand den Glauben an ein Leben nach dem Tode mit dem Hinweis auf die alleinige Existenz unserer sinnlich erfahrbaren Welt und Ihrer angeblichen Beweisbarkeit als falsch abqualifizieren.

Wer beginnt, sich mit anderen Wirklichkeiten zu beschäftigen, stößt früher oder später auf das, was man global als Esoterik bezeichnen kann. „Esotera“, aus dem Griechischen kommend, bedeutet das Geistige, Innere, während „Exotera“ das Äußere, Materielle meint. Immer wieder haben im Laufe der Evolution Menschen auf das geistige Potential des Menschen hingewiesen und Wege zu seiner Nutzung aufzuzeigen versucht. Hierzu zählen die Schamanen, die seit grauer Vorzeit in allen Kulturen als Heiler und Priester gewirkt haben. Oder die Mystiker, allen voran Meister Eckardt, Ignatius und Loyola, Jacob Böhme sowie die östlichen Begründer mystischer Lehren wie Yoga, Taoismus, Sufismus; ferner Magie, Astrologie, Alchimie. Zur Esoterik gehören Religionen wie Buddhismus, Christentum, Hinduismus, aber auch Weisheitslehren wie die von Rudolf Steiner, Teilhard de Chardin oder Sri Aurobindo. Auch Berichte einzelner über Begegnungen mit anderen Wirklichkeiten, etwa unverhoffte Visionen oder Astralkörperabspaltungen, sind von esoterischer Bedeutung. Wenn wir den Kreis noch weiter ziehen, können wir alles, was der Bewußtseinserweiterung dient, wie Hypnose, Meditation, Drogen, Aikido, Bioenergetik, Psychotherapie, unter die Esoterik einordnen.

Zu den Berichten über Erlebnisse mit anderen Wirklichkeiten zählen die Bücher von Carlos Castaneda, den ein mexikanischer Indianer namens Don Juan in die Geheimnisse des Zusammenhangs zwischen Geist und Materie einweiht. Die Lehren des Don Juan bilden auch den Schlußstein dieses Buches. Nicht nur die große Resonanz, die seine Bücher in aller Welt finden, legen nahe, sondern auch die eindrucksvolle Darstellung zentraler, esoterischer Gehalte, ihre Erläuterung und ihre Methodik, sowie die deutlichen Entsprechungen zu anderen esoterischen Lehren.

Die Zeugnisse über Kontakte mit anderen Wirklichkeiten stammen aus unterschiedlichen Zeiten und Kulturen. Erstaunlich ist an diesen Berichten, daß sie sich im wesentlichen ähneln, daß sie die andere Wirklichkeit und den Zugang zu ihr mehr oder weniger gleichlautend beschreiben, wenn auch mit unterschiedlichen Begriffen und von verschiedenen Standpunkten aus.
Wir beginnen mit der Magie, weil sie, nicht ohne Grund, als „Mutter“ aller Regionen und Weisheitslehren gilt. Es folgt der Schamanismus, der archaische Vertreter dieser Welterklärungsmodelle. Eine Besonderheit bildet das Kapitel über außerkörperliche Wahrnehmungen, das nicht auf einer umschriebenen Lehre basiert, sondern auf repräsentativen Berichten von teilweise bekannten Naturwissenschaftlern, die mehr oder weniger gegen ihren Willen während des Schlafs in die andere Wirklichkeit glitten.

Eine längst vergessene, aber interessante Kunst ist die Alchimie, in der es nur vordergründig um die Herstellung von Gold und Lebenselixieren geht. Obwohl diese Jahrtausende alte „Wissenschaft“ ihre Blütezeit im 16. Jahrhundert hatte, gibt es heute noch Vertreter dieser Geduld verlangenden Fertigkeit. Die Mystik, die ihre hohe Zeit vor Jahrhunderten hatte, fordert radikale äußere und innere Loslösung von allem Besitztum. Der bekannteste Vertreter der westlichen Spielart war Meister Eckhardt. Der mit der Mystik zu vergleichende Zen-Buddhismus wird anschließend behandelt, zusammen mit den ungewöhnlichen Inhalten des Tibetanischen Totenbuches.

Als exemplarische Berichterstattung über andere Wirklichkeiten seien die Lehren des Don Juan angeführt, die Carlos Castaneda in bisher sieben Bänden beschrieben hat. Das Lehrsystem des Don Juan ist so aufschlußreich, daß die anderen beschriebenen Lehren nur dazu dienen, bestimmte Aspekte, etwa die Existenz eines Bewußtseinskörpers, oder den Ego-Tod als Voraussetzung für einen bewußten Eintritt in die andere Wirklichkeit deutlich zu machen. Nur die Magie mit ihrer Systematik und Praxis liegt auf dem Niveau der Lehren Don Juans und kann deshalb einen besonderen Raum beanspruchen.

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