1.1 Einführung
Man muß eine Sache loslassen, wenn man sie haben will.
Welch ein Unsinn!
Daß dieser Unsinn mein Leben verändern würde, habe ich damals, als ich diese und ähnliche gegensätzliche Behauptungen zum ersten Mal bewußt kennenlernte, nicht gedacht. Obwohl so ganz unsinnig diese Geschichte mit dem Loslassen ja nicht ist. Viele Leute sind schon bei lebendigem Leib verbrannt, weil sie es nicht geschafft haben, sich aus dem Fenster in das Sprungtuch der Feuerwehr zu stürzen. Das Leben loszulassen, um es wieder zu bekommen. Das ist das Geheimnis.
Doch fangen wir ganz von vorn an. Zunächst einmal möchte ich Sie als Leser herzlich begrüßen und Ihnen wünschen, daß Sie dieses Buch nicht so schnell vergessen werden wie viele andere vorher. Sie werden diese Begrüßung sicher als ungewöhnlich empfinden, schließlich sitzen wir nicht zusammen im Cafe und halten small-talk, aber ich denke, daß wir doch eine ganze Weile miteinander auskommen müssen und da erscheint mir eine Begrüßung angebracht.
Natürlich haben Sie jederzeit das Recht (wer wollte es Ihnen verwehren?), dieses Buch zuzuklappen und es irgendwo verstauben zu lassen. Ich wette jedoch mit Ihnen, daß dieser Umstand kaum eintreten wird. In diesem Buch geht es nämlich fast ausschließlich um ein Thema und das ist Ihre Person. Und was könnte Ihnen wichtiger sein als Ihre Persönlichkeit?
Sie werden jetzt vielleicht einwenden, daß dies kaum möglich erscheint, da ich Sie doch nicht kenne. Das ist oberflächlich gesehen sicherlich richtig. Auf der anderen Seite ist nicht zu bestreiten, daß Sie ein Mensch sind und Menschen sind sich nun doch sehr ähnlich. Abgesehen von den anatomischen Details ist auch die menschliche Psyche offensichtlich ein interkulturelles Phänomen, das sehr wohl vergleichbar ist.
Das hervorstechendste Merkmal ist dabei der scheinbar notwendige, meistens jedoch einseitig überbewertete Egoismus. Nach dem Prinzip „Rette sich, wer kann“ oder „Die Letzten beißen die Hunde“ versucht fast jeder, sich seine eigene Glücksinsel inmitten eines reißenden Flusses zu schaffen. Doch wer schafft das und vor allem wie lange hält diese Bastion?
Fragen, deren Beantwortung sich später von selbst ergeben werden. Ich denke, daß wir alle eine Menge gemeinsam haben (gemeinsame Wünsche, Bedürfnisse, Erfahrungen), so daß es sich lohnt, darüber zu reden und vor allem den Versuch zu unternehmen, nach den Ursachen und Bedingungen unserer Erlebnisse zu forschen. Denn darum geht es in diesem Buch. Wir wollen gemeinsam den Dingen, die unser Leben erfüllen oder auch beschränken, auf den Grund gehen und dabei sehen, was wir daraus für uns lernen können.
Es mag sein, daß Sie jetzt einwenden, daß Sie für das Lernen zu alt seien, dazu sei schließlich die Schule dagewesen, aber ich behaupte, daß das Leben insgesamt ein Lernprozeß ist. Selbst das Sterben müssen wir noch erlernen. Doch auch dazu kommen wir noch später.
Den Dingen auf den Grund zu gehen, gehört zu den ältesten philosophischen Übungen überhaupt. Philosophie ist letztlich nichts anderes, als das Bemühen, hinter die Kulissen zu schauen. Insofern werden wir gemeinsam Philosophie betreiben, was sicherlich nichts Schlimmes ist, selbst, wenn sich Ihnen bei dem Wort „Philosophie“ die große Frustration einstellt.
Wer hat nicht schon einmal die Wortkaskaden und Satzungetüme eines großen Philosophen vergeblich versucht zu verstehen, wenn dieser, meistens in jahrelanger gesellschaftlicher Isolation lebend, ausschließlich dem Denken nach dem Grunde zugetan, das Wagnis unternimmt, die Schöpfung zu erklären, dabei Gott zu beweisen und überhaupt die Unendlichkeit des Endlichen in seinem hintersten Winkel aufzuspüren, bloßzustellen, zu zerlegen und wieder zusammenzusetzen.
Ich weiß, mir steht dieser beißende Spott nicht zu. Denn erstens habe ich keine Ahnung von wahrer Philosophie, und zweitens versuche ich im Grunde dasselbe. Und ob das, was dabei letztlich herauskommt, verständlicher ist, als das, was Sie bei jedem Philosophen nachlesen können, ist noch die große Frage. In dem Moment, in dem ich dies hier schreibe, weiß ich nämlich genauso wenig wie Sie, was bei unserer gemeinsamen Entdeckungsfahrt herauskommt. Ich werde mich allerdings bemühen, verständlich zu bleiben und vor allem den Praxisbezug nicht zu vergessen.
Doch genug der Tändelei. Packen wir es an.