Das Ding an sich

Teil 3: Das Gegensatz-Prinzip

1.2 Erkenne Dein Selbst

Was haben Sie für eine Vorstellung, was wirklich passiert? Ich meine, irgendwie macht sich doch jeder seine Gedanken über das, was ist, was war, was sein wird. Was denken Sie?

Vielleicht sind Sie religiös. Nehmen wir den christlichen Glauben. Was erzählt uns die Bibel?

Irgendwann in grauer Vorzeit erschuf Gott die Welt, den Menschen und das Para­dies, in dem es sich offensichtlich herrlich leben ließ, insbesondere nach­dem Gott auch noch das Weib geschaffen hatte. Dann begingen die Menschen einen Fehler. Sie ließen sich verführen und das Elend begann. Seitdem versu­chen sie, das Paradies wiederzufinden, aber der Teufel, dieser verfluchte, stellt ihnen immer wieder ein Bein. Sünde nennt es die Kirche, wenn der Mensch ge­gen die 10 Gebote verstößt, wenn er vom heiligen Pfad, der ihn in den Himmel führt, ab­weicht. Folglich gilt es in diesem Leben, möglichst wenig Verstöße zu begehen, Reue zu zeigen, Gutes zu tun, damit der Lohn nicht ausbleibt. Und we­he dem, der nach seinem Dahinscheiden sein ausschweifendes Leben mit einem wenig angenehmen Aufenthalt in einer saunaartigen Hölle bezahlen muß.

Glauben Sie an diese Geschichten? Möglichst noch mit pausbäckigen Engelein, gehörnten Teufelchen und einem langbärtigen Gottvater auf dem Himmelsthron bebildert?

Wer  k a n n  daran eigentlich heute noch glauben? In einer Zeit, wo Raketen zum Mond fliegen, Computer den Verkehr regeln, Maschinen die Arbeit erledigen, Atomkraftwerke den Strom produzieren, noch solche “Geschicht’chen”?

Natürlich versucht sich auch die Kirche der Zeit anzupassen, aber die Glaub­wür­dig­keit ist dahin. Nach 2000 Jahren menschlicher, auch geistiger, Entwicklung, läßt sich kaum noch jemand ein X für ein U vormachen. Vom Paradies vor 4000 Jahren reden, wenn jeder weiß, daß der Mensch und der Affe vor Jahrmillionen gemeinsame Vorfahren hatten, die noch weiter in die Zeit zurückreichen und wo statt paradiesischer Zustände Hauen und Stechen, Tod oder Überleben an der Tagesordnung waren.

Das ist einfach lächerlich, genauso wie die Vorstellung, daß der Einzelne nach seinem Tod vor dem göttlichen Richter steht, der ihn mit strenger Miene nach seinen guten und schlechten Taten beurteilt und danach ggf. ins Fegefeuer oder in die Hölle steckt. Angstmacherei, oder sollte man vielleicht sagen, Geschäfte­ma­che­rei? Offensichtlich handelt es sich hierbei jedoch um schlechte Geschäfts­leute, denn die Kirchen werden immer leerer und die Einnahmen immer geringer. Man müßte sich etwas Neues einfallen lassen, doch der Kredit ist ziemlich ausgeschöpft.

Doch damit genug der Schelte. Ich bin persönlich davon überzeugt, daß jedes Jota in der Bibel die reine Wahrheit ist (ehrlich!). Die Sprache der Bibel und damit oft die auch der Priester und Pastoren ist jedoch ganz einfach veraltet und auf dem Niveau von Analphabeten, Bauern und Sklaven, für die die Bibel einstmals gedacht war. Sie ist nichts weiter als ein Bilderbuch für Kinder, das von den Erwachsenen nicht mehr ernst genommen wird. Eigentlich müßte eine neue Bibel erfunden werden, eine für Erwachsene, die Begriffe wie Gott und Teufel, Sünde und Heiligtum zeitgemäß übersetzt. Aber das würde auch bedeuten, daß die Kirche von Grund auf reformiert würde, und das ist bekanntlich nicht so einfach.

Nein, ich glaube, mit der Religion kommen wir in der beschriebenen Form nicht besonders weiter. Auch wenn der eine oder andere jetzt vielleicht widersprechen wird. Gott ist tot, sagte Nietzsche und damit hat er nach meiner Ansicht recht.

Was kann uns denn sonst noch helfen, in dieser Welt zurecht zu kommen. Einen Weg zu finden, etwas zum Festhalten, Hoffnung, ein Ziel, einen Sinn.

Die Naturwissenschaft? Lange hat es so ausgesehen, daß sie sich als Retter in der Not der Unwissenheit, des Aberglaubens und des Dogmatismus der Kirche als glaubwürdige Alternative gegenüberstellen konnte. Nicht umsonst wurde sie des­halb zunächst bekämpft und mit dem Teufel in Verbindung gebracht. Die Natur­wissenschaft hat in der Tat viel dazu beigetragen, daß die Menschheit in ihrer Entwicklung ein gewaltiges Stück vorangekommen ist. Obwohl natürlich auch eine Menge negativer Begleitumstände damit verbunden waren. Umwelt­zer­störung, Mas­sen­vernichtung, etc. Vor allem hat sie über Jahrhunderte den Glauben von der endgültigen Auf­klärung des Universums genährt. So, als ob es nur eine Frage der Zeit sei, wann wir alles wissen und alles können. Die Welt wur­de noch Ende des vergangenen Jahrhunderts als riesiges Räder­werk an­ge­se­hen, über das man sich nur ausreichend informieren mußte, um alles zu verstehen.

Aber Pustekuchen, wenn Sie mir den saloppen Begriff verzeihen, das Weltbild des Isaac Newton, in dem die Äpfel, wie es sich gehört, noch nach unten fielen, fiel wie ein Kartenhaus zusammen, als Albert Einstein mit seiner berühmten, oder soll man sagen, berüchtigten Relativitätstheorie eben alles relativierte. Zeit, Raum, Energie, Masse – also alles, was unser Leben aus der Sicht der Natur­wissen­schaft ausmacht, war plötzlich nicht mehr das, wozu wir es vorher be­stimmt hatten. Nichts ist wirklich fest, nichts ist unabhängig von uns, nichts ist absolut eindeutig, nichts verhält sich nur so und nicht anders. Zwar merken wir davon nicht viel, weil wir großzügig über solche elementare Ungereimtheiten hinwegsehen. Aber die Wissenschaftler selber, allen voran Albert Einstein, fanden bald heraus, daß der vermeintliche Unterschied zwischen Religion und Wissen­schaft kleiner geworden war. Zwar läßt sich immer noch die natur­wissen­schaftliche Wirklichkeit mit mathema-tischer Exaktheit berechnen, aber bei dem Versuch, sie zu beschreiben, reden die Wissenschaftler in Gleichnissen und Bildern wie einst Jesus Christus (siehe Werner Heisenberg, in H.P.Dürr, Das Netz des Physikers, S. 108).

Albert Einstein vergleicht z.B. die Bemühungen eines Physikers, die Wirklichkeit zu begreifen, mit einem Mann, der versucht, hinter den Mechanismus einer geschlos­senen Taschenuhr zu kommen. „Er sieht das Ziffernblatt, sieht, wie sich die Zeiger bewegen, und hört sogar das Ticken, doch hat er keine Möglichkeit, das Gehäuse aufzumachen. Er denkt sich vielleicht einen Mechanismus aus, aber er ist niemals in der Lage, seine Ideen an Hand des wirklichen Mecha­nis­mus zu überprüfen.“ (Einstein, A. in Infeld, L.: Die Evolution der Physik, S. 29 f.)

Nun ja, die Wissenschaft ist kompliziert genug. Wenn sie dann schon von ihren eige­nen Vertretern kaum noch zu begreifen ist, was kann sie uns noch nützen?

Also, Religion ist Schnee von gestern, auf die Wissenschaftler kann man sich auch nicht mehr verlassen, was bleibt uns noch?

Wie wäre es mit den okkulten Wissenschaften, also mit Magie, Mystik, Alchimie? Können Sie damit etwas anfangen? Geister beschwören, Zauberformeln spre­chen, aus unedlem Metall in lebenslanger Arbeit Gold herstellen?

Ich sehe schon, davon halten Sie gar nichts. Zumindest erscheint Ihnen dieser Hocuspocus fremdartig, unwahrscheinlich, sogar gefährlich, auf jeden Fall müh­selig, mit wenig Aussicht auf Erfolg. Ich habe da eine etwas andere Meinung, aber wir reden ja von Ihnen.

Nun, was denken Sie, wie halten Sie es mit der Wirklichkeit? Einfach in den Tag hinein­leben: Aufwachen, frühstücken, arbeiten, essen, fernsehen, schlafen, etc. Und das tagaus, tagein. Mit kleinen Änderungen. Fühlen Sie sich damit befrie­digt?

Der Sand der Zeit läuft doch durch Ihre geschlossene Hand. Die Haare werden grau, die Falten tiefer, der Bauch dicker. Und der Tod lauert an jeder Ecke. Spätestens in einigen Jahrzehnten sind auch Sie dran, und was dann?

Irgendetwas muß doch noch dahinterstecken. Die Oberfläche, auf der entlang wir uns bewegen, ist einfach nicht glatt genug. Neben “Aufwachen, Frühstücken, Arbeiten, Essen, usw” laufen noch andere oder damit zusammenhängende Prozesse ab. Was könnte das sein?

Wir können ja einmal Detektiv spielen. Nehmen wir an, uns hätte jemand beauftragt, ein Rätsel zu lösen. Die Rätselfrage lautet: Wer bin ich?

Eigentlich eine dumme Frage. Schließlich weiß jeder, daß ich ein Mensch bin, Hans E. Ulrich heiße, um die 40 Jahre alt bin und einigen mehr oder weniger einträglichen Berufen nachgehe. Ist sonst noch etwas wichtig? Ich bin verhei­ra­tet; habe keine Kinder,aber dafür 2 Hunde; 75 Kilo schwer, 1,80 groß, etc, etc. Jeder von Ihnen kann sich einen ähnlichen Steckbrief verpassen.

Aber ist das genug? Hört mein Ich an meinen Fingerspitzen auf?

Nein, daß sind ja noch meine Frau, meine Hunde, mein Haus, mein Auto, mein, mein, mein. Das alles betrachten wir in der Regel als unser Eigentum, über­neh­men dafür die Verantwortung und gehört daher auch zu unserem Ich, oder sagen wir besser Selbst.

Dann reden wir noch von unseren Nachbarn, unseren Freunden, unseren Bekann­ten. Unsere Heimatstadt, unser Land, unsere Nation. Aus bestimmten Anlässen heraus gehört eigentlich alles zu uns. Wenn Deutschland Fußball-Weltmeister wird, fiebern fast alle mit und freuen sich darüber, daß w i r es wieder einmal geschafft haben.

Kurzum, unser Ich läßt sich nicht auf einen Durchmesser von ca. 2m begrenzen. Je nach Lust und Laune oder auch nach Mitgefühl und Bewußtsein erweitern wir diesen Kreis quasi bis ins Unendliche. Zwischen einem Ganzen (Familie, Schul­klasse, Ortsteil, Bundesland) und einem Teil davon pendeln wir je nach Bedarf stän­dig hin und her.

Also raummäßig läßt sich unser Ich kaum ortsfest machen. Sicher sitzen Sie jetzt in Ihrem Sessel, aber ich frage Sie, was ist davon Ihr Ich? Wirklich nur die beiden Hände, die Füße, also Ihr Körper? Gehört nicht das Buch, das Sie gerade lesen, auch dazu? Schließlich haben Sie es doch gekauft oder geschenkt bekommen, es gehört Ihnen, es passt zu Ihnen wie der Sessel, in dem Sie sitzen. Wenn er nicht Ihrer Körperform entsprechen würde, könnten Sie ihn nicht so benutzen. Für einen Stuhl oder für ein Bett gilt das Gleiche. Alles, was Sie umgibt, ist ein Teil von Ihnen. Es gehört zu Ihrer Wirklichkeit. Nur Sie können diese Wirklichkeit so wahrnehmen, wie Sie es jetzt tun. Sie allein lesen jetzt in dieser Umgebung diese Zeilen und Sie allein sitzen in diesem Sessel. Niemand anders auf der Welt macht in diesem Moment dieselben Erfahrungen wie Sie.

Ist das nicht ungeheuerlich? Sie sind ganz allein auf dieser Welt. Weit und breit kein Mensch, der Ihre Erfahrungen teilen könnte. Natürlich werden Sie jetzt sagen, das sei alles Unsinn. Neben Ihnen sitzt Ihre Frau und strickt, die Kinder lärmen im Garten, der Hund liegt in seinem Körbchen oder irgend jemand anders nimmt an Ihrer Wirklichkeit teil, und deshalb seien Sie nicht allein.

Was denkt denn Ihre Frau in diesem Moment, oder was fühlt Ihr Hund, was machen Ihre Kinder genau? Wissen Sie das? Nein, Sie können nur Vermutungen anstellen. Selbst, wenn Sie Ihre Frau fragen, was Sie gerade gedacht hat, wird sie Ihnen nur eine ungenaue Antwort geben. Und was sie gerade fühlt, können Sie ohnehin kaum nachvollziehen. Die einzige Gewißheit, die Sie haben, ist, daß Sie jetzt in diesem Moment so sind, wie Sie sind. Vielleicht etwas müde, abgespannt; interessiert (so hoffe ich wenigstens) den Worten lauschend, die ich Ihnen in Ihre Wirklichkeit flüstere.

Also, jeder Mensch ist mit sich allein. Allein mit seinen Gefühlen, Wahrneh­mun­gen und Taten. Ist das nicht toll?

Natürlich können Sie Ihrem Partner oder Ihrem Freund alles Mögliche erzählen, was Sie bewegt, oder der kann sein Mitgefühl äußern, Ihnen helfen, mit Ihnen reden. Aber die Erfahrung machen Sie allein über Ihre Augen und Ohren und sonstigen Sinne. Finden Sie das nicht so toll? Allein zu sein, und zwar vollkommen. In einer Welt, die nur auf Sie zugeschnitten ist, die Ihnen gehört, die Sie bestimmen, in der Sie der absolute, wenn auch einzige Herrscher sind. Und natürlich auch der einzige Untertan, beide zusammen in einer Person.

Wenn Sie darüber nachdenken, müßte Ihnen diese Rolle eigentlich gefallen. Wer möchte nicht König sein und sich bedienen lassen. Allerdings hat die Sache, wie sollte es auch sein, einen Haken. Ihnen ist diese Rolle, die Sie auf Ihrer Lebens­bühne spielen, nicht bewußt. Und so kommt es, daß Sie meinen, daß jemand anders die Regie führt, daß Sie häufig genug mühselig den Stein auf den Berg rollen, nur um zu sehen, wie er auf der anderen Seite wieder herun­terrollt. Statt Ihr Dasein als König zu genießen, fühlen Sie sich zu oft in der Rolle des Bettlers, der gierig nach einigen Brosamen greift, die von der übervollen Tafel herunter­fallen.

So, jetzt ist es aber genug. Die Fragezeichen werden bei Ihnen immer größer.

Fassen wir zusammen: Wer bin ich? Auf jeden Fall nicht nur der Mensch XY, dessen Perso­nen­daten überall gespeichert sind. Wir empfinden unser Ich, der eine mehr, der andere weniger, über unseren Körper hinausgehend. Die Verbindung zwischen uns und der übrigen Welt kann z.B. im Fall der Familie sehr eng sein, sie kann aber auch ganz lose sein. Je nachdem wieweit wir unser Bewußt­sein, unsere Verantwortung und unser Identifikationsvermögen entwickelt haben und entwickeln wollen. Prinzipiell ist es möglich, sich mit allem zu identifizieren, was für den einzelnen erfahrbar ist. D.h. konkret: Jeder Mensch, jedes Tier, jede Pflanze und jeder Stein, dem man begegnet, wird als Teil der eigenen Person erfahren und so behandelt. Normalerweise dehnen wir dieses Bewußtsein nur auf einen kleinen Teil unserer Welt aus, alles andere betrachten wir als fremd oder gegensätzlich. Dabei gehört alles, was wir erfahren, zu uns.

Ob wir das wollen oder nicht. Wir stehen im Mittelpunkt einer Welt voller Lärm, Licht und Bewegungen, die nur wir so empfinden können, wie wir es tun. Alle anderen spielen die Rolle von Statisten, von Bühnenarbeitern, von Mitspielern, die kom­men und gehen, wie wir das wollen.Wenn wir morgens beim Bäcker die Brötchen holen, ist er nur für uns da. Selbst wenn noch zwanzig andere im Laden stehen, ist die Erfahrung, die wir dabei ma­chen, ganz auf uns zugeschnitten und damit ganz individuell. Wenn wir an diesem Morgen keine Lust auf Brötchen haben, spielt er und die zwanzig anderen auch keine Rolle auf unserer Bühne. Er existiert nicht real für uns, sondern lediglich als Potential. Also als jemand, der vielleicht in Erschei­nung treten könnte, wenn wir es wollen. Und so gestalten wir unseren Tag und unser Leben. Auch das sogenannte Zufällige gehört dazu, das, was uns Freude macht und das, was uns ängstigt.

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