Das Ding an sich

Teil 3: Das Gegensatz-Prinzip

2.3 Karma, Tod und Wiedergeburt

Aus einem Samenkorn entwickelt sich eine Pflanze. Aus der Pflanze wird ein Baum. Der Baum trägt Früchte, die neuen Samen enthalten und so schließt sich der Kreis. Ist es tatsächlich ein Kreis? Ohne Anfang und Ende, ohne Höhen und Tiefen?

Nun, der Baum wird irgendwann abgeholzt oder vom nächsten Sturm gefällt. Der Samen aber gedeiht irgendwo, bringt neue Pflanzen und Bäume hervor und das Spiel geht weiter. So stellt sich uns die Welt dar, nicht nur bei Pflanzen, auch bei Mensch und Tier, offensichtlich bereits in grauer Vorzeit und wahrscheinlich noch in die weite Zukunft. Aus Kleinem wird etwas Großes, aus Einfachem etwas Kompliziertes, aus Einfarbigem etwas Buntes, usw.

Entwicklung nennen wir das. Entlang der Zeitachse entwickelte sich das Weltall vom Urknall bis heute, die Materie vom Elementarteilchen bis zum Markro­mole­kül, das Leben vom Einzeller bis zum Menschen, die Technik vom Faustkeil bis zum Computer.

Das gilt für die Art, wie auch für das Individuum. Jedes Teil durchläuft einen Lebenszyklus von der Geburt bis zum Tod. Die Sonne ist vor einigen Milliarden Jahren genauso geboren worden wie Du vor einigen Jahrzehnten, und sie wird in einigen Milliarden Jahren genauso sterben wie Du in einigen Jahrzehnten. D.h. ihre Aktivität wird erlöschen, und sie wird erkalten. Das Weltall wird dann vermutlich jedoch weiterhin existieren, genauso wie auch die Menschheit ohne Dich weiterhin existieren wird. Sie wird sich als Ganzes weiterentwickeln genau­so wie Du Dich in Deinem Leben entwickelt hast. Hast Du Dich entwickelt?

Kör­per­lich bestimmt. Du bist größer geworden. Du hast gelernt, Dich in dieser Welt zurecht zu finden, zu behaupten. Dann hast Du viel in der Schule fürs Leben gelernt, sagt man zumindest. Du weißt viel. Du lernst vielleicht sogar jeden Tag hinzu. Aber wofür?

Entwicklung heißt doch, daß etwas, was schon da ist (als Anlage) sich ausprägt, in Erscheinung tritt, wächst, heranreift, ausreift. Was reift denn bei Dir?

Ist es Dein Kontostand, Deine berufliche Karriere? Deine Weisheit, Deine Lebenserfahrung?

Wenn jemand etwas erfunden hat, arbeitet er in der Regel solange daran, bis die Erfindung funktioniert. Er verbessert sie ständig, bis sie seiner Meinung nach vollkommen ist.

Jede Entwicklung strebt nach Vollkommenheit!

Was auch immer Du tust oder nicht tust, Du wirst Dich weiterentwickeln. Und da Du der Schöpfer Deines Universums bist, entscheidest auch Du darüber, wann Deine Entwicklung beendet ist. Und wann ist sie beendet?

Es gibt einige interessante Hinweise darauf, was passiert, wenn der Mensch stirbt. Dazu zählen Berichte von Menschen, die knapp dem Tod entrinnen konn­ten oder auch nur bewußtlos waren. In Sekundenbruchteilen werden wesentliche Statio­nen des Lebens noch einmal erlebt, gleißendes Licht wird gesehen, Tunnel­er­fahrung, das Bewußtsein spaltet sich vom Körper ab, euphorische Stimmung herrscht vor. Nach diesen Erfahrungen sind viele Menschen religiös geworden. Sie haben einen Blick hinter den Schleier geworfen, der sowohl über dem Tod wie über der Geburt liegt.

Was müßte aus unserer gegensätzlichen Weltsicht im Moment des Todes passieren?

Wenn wir davon ausgehen, daß die Wirklichkeit ein subjektives, geistiges Pro­dukt ist, das wir auf der Bühne unserer Phantasie inszenieren, wird der Tod nichts Wesentliches daran ändern. So wie wir uns im Leben an bestimmte Vor­stel­lungen klammern, die die Gegensätze auf den Plan rufen, so werden auch im Sterben unsere Ängste und Wünsche unsere Erlebnisse diktieren. D.h. wer daran glaubt, daß es ein Leben nach dem Tod gibt, der wird es erleben. Wer an das Jüngste Gericht glaubt, wird vor dem Höchsten Richter stehen. Wer an nichts glaubt, wird auch nichts bemerken. Das letztere würde ich allerdings anzweifeln. Da wir alle an irgendetwas glauben, werden auch Atheisten ihre Sterbeerleb­nis­se haben.

Jede Entwicklung, haben wir gesagt, strebt nach Vollkommenheit. Wer als Un­vollkommener ins Grab sinkt, wird weiter lernen müssen. Um ins Paradies zu­rück­­zukehren, müssen wir anscheinend unsere Erbschuld abtragen. Diese Erb­schuld (Karma) besteht aus der zwanghaften Abspaltung oder Unterscheidung von Ich und Nicht-Ich, Gut und Böse, usw. und dem daraus resultierenden Ungleichgewicht. Diese Schieflage ist Grund dafür, daß wir solange zwischen den Polen von Geburt und Tod hin- und herpendeln, bis wir die Lektion gelernt haben. Bis wir das Nicht-Seiende des Seienden erkannt oder mit Hegel festgestellt haben: Das Seiende hat sein Sein am Nicht-Sein seines Gegensatzes.

Aber Spaß beiseite, so spaßig ist die Angelegenheit ja nicht. Schließlich haben wir alle fürchterliche Angst vor dem Tod, weil wir leider Gottes zu sehr an der Illusion unseres Ichs hängen. Diese Tatsache hat die Buddhisten dazu bewegt, sogenannte Totenbücher zu schreiben, die den Sterbenden zu ihrer Beruhigung und Aufklärung vorgelesen werden, auch wenn sie nach medizinischen Maß­stäben das Zeitliche schon gesegnet haben.

„Dies ist die Stufe des Bardo Thödol, die den Jünger über den Bereich des Todes hinaushebt und ihn befähigt, die Illusion des Sterbens zu durchschauen und sich von der Furcht vor ihm zu befreien. Diese Illusion besteht in der Identifizierung des Individuums mit seiner temporären, vergänglichen Form, sei sie körperlich, seelisch oder mental, und führt zu der irrtümlichen Vorstellung einer persönlichen, für sich und in sich selbst bestehenden, gesonderten Ichheit und zu der Furcht, sie zu verlieren. Wenn jedoch der Jünger gelernt hat, sich mit dem Ewigen, dem Dharma, dem Unvergänglichen Licht der Buddhaschaft in seinem Inneren zu identifizieren, dann wird seine Todesfurcht wie eine Wolke vor der aufgehenden Sonne verschwinden.“ (Tibetanisches Totenbuch, London 1983, S. 21)

Der Tod wird bei den Buddhisten als eine große Chance eingeschätzt, den Schein des Seins zu erkennen und den Absprung vom Rad der Wiedergeburt zu schaffen. Denn die Seele macht nach ihrer Auffassung im Moment des Todes einen Sprung an den Rand des Nirvana, ohne von Maya verdunkelt zu sein.

„O Edelgeborener, jetzt ist die Zeit gekommen, wo du den Pfad (in die Wirklichkeit) suchst. Dein Atem hört gleich auf. Dein Guru hat dich zuvor von Angesicht zu Angesicht gesetzt mit dem Klaren Licht, und du bist jetzt im Begriff, es in seiner Wirklichkeit im Bardo-Zustand zu erfahren, worin alle Dinge wie leere wolkenlose Himmel sind, und der nackte fleckenlose Geist wie ein durchsichtiges Vakuum ohne Umkreis oder Mittelpunkt. In diesem Augenblick erkenne dich selbst und verharre in diesem Zustand.“

Gelingt dem Sterbendes dies, so ist er erlöst. Gelingt es ihm nicht, und das dürfte in den meisten Fällen so sein, nimmt der Bardo, so heißt der Zustand des Todes, seinen Fortgang und führt ihn immer weiter durch das Auftauchen furcht­erregender Gestalten, Qualen und Ängste vom Licht weg in die Finsternis. Ent­schei­dend für die Fähigkeit des Sterbenden, seinen Tod und die dabei auf­tre­ten­den Erscheinungen als Illusion zu durchschauen, ist die Qualität seines Karmas, das heißt seiner angehäuften Taten im Guten und Schlechten. Nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung führen gute Taten, die zu einem gewissen Maß auf Ich-Losigkeit beruhen, in den Himmel, das heißt zur Erkenntnis; schlechte hingegen, gekennzeichnet durch Ich-Sucht, in die Hölle, in die Unwissenheit.

Tja, also sollten wir es doch wie die Pfadfinder halten. Jeden Tag mindestens eine gute Tat, und wir haben es später gut. Aber bitte daran denken, daß wir gerade daran (an die Belohnung) nicht denken. Denn dann wird es nichts mit der guten Aussicht.

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