Das Ding an sich

Teil 3: Das Gegensatz-Prinzip

1.13 Das Paradies auf Erden

Am Ende dieses ersten Teils möchte ich noch die eigentlich wichtigste Frage behandeln, die in diesem Zusammenhang gestellt werden kann. Wir fallen of­fen­sichtlich von einem Gegensatz in den anderen, aber warum tun wir das eigentlich? Wenn wir feststellen, daß die ganze Misere durch das Betonen eines Gegensatzes entsteht, erhalten wir keine Aussage über den Grund für dieses Verhalten.

Man muß tatsächlich bei Adam und Eva oder noch früher anfangen, wenn man den Faden dafür aufgreifen will. Ich meine, in der Bibel wird ja nicht umsonst die Geschichte von Eva, der Schlange und dem Apfel erzählt. Blättern wir doch zurück.

Adam wurde es im Paradies, in dem es ihm eigentlich an nichts fehlte, auf die Dauer zu langweilig und Gott, der Herr, hatte ein Einsehen und schuf aus Adam’s Rippe das Weib als sein Ebenbild. Beide vergnügten sich daraufhin wie unschuldige Kinder im Garten Eden, bis sie eines Tages der Versuchung begegneten.

Der Teufel in Gestalt der Schlange trat auf den Plan und bot Eva einen Apfel an, den zu essen Gott, der Herr, strikt verboten hatte. Er wollte nämlich nicht, daß die Menschen zwischen gut und böse unterscheiden sollten (Originalzitat!). Eva konnte den verführerischen Worten der Schlange nicht widerstehen und biß zu. Damit schnappte die Falle zu, und den Rest kennen wir.

Was will uns nun der Dichter damit sagen? In unserer Terminologie können wir die Geschichte auch so zusammenfassen: Aus dem Zustand des paradiesischen Gleichgewichts geriet das besagte Paar in ein Ungleichgewicht, indem es etwas tat, was es nicht tun durfte und damit in die Niederungen des Gegensatzes ein­brach. Seitdem versuchen sie bzw. ihre Nachkommen aus diesem Sumpf wieder herauszukommen, aber der Fall war so tief, daß es eine lange Zeit brauchte, um auf den heutigen Stand zu kommen. Religion ist im übrigen nichts weiter als eine Beschreibung dieses Weges (religio (lat.) = ich kehre zurück).

Lassen wir nun einmal die Zeitkomponente weg, sie ist schließlich auch nur gegensätzlich orientiert, können wir uns mit Adam und Eva direkt identifizieren. Wir könnten eigentlich alle im Paradies leben, wenn wir uns mit dem zufrieden geben würden, was ist. Was heißt das?

Wovon, glauben Sie, ist persönliches Glück abhängig? Vom Geld, von der Gesundheit, vom Erfolg oder von der Liebe, die jemand erfährt? Wahrscheinlich von allem, von dem einen mehr und dem anderen weniger, werden sie sagen. Könn­ten Sie sich vorstellen, daß ein kranker Bettler, der allein und verlassen in der Gosse liegt, persönliches Glück empfindet? Wahrscheinlich nicht.

Und doch behaupte ich, daß auch ein Mensch, der vom Schicksal mit Füßen ge­tre­ten wird, Glücksmomente empfinden kann. Z.B. dann, wenn er sturz­be­trun­ken selig seinen Rausch ausschläft. Feines Glück, nicht wahr. Damit möchten Sie wahrscheinlich nicht tauschen. Und doch ist dieses Beispiel wichtig für uns. Unter Alkoholeinfluß verändert sich offenbar die Glücksbilanz des Menschen. Die großen und die kleinen Sorgen des Alltags verschwinden, Geld spielt keine Rolle, Hemmungen fallen, Verbrüderungen sind an der Tagesordnung. Gefühle von Stärke und Selbstüberschätzung treten auf. Glück wird, wenn auch nur für ein paar Stunden, spürbar.

Wenn der Alkoholpegel steigt, werden die Dämme niedergerissen, die wir zwischen uns aufbauen. Die Mauern, die entstehen, wenn wir sagen, den mag ich und den mag ich nicht. Die Welt wird wie in Watte verpackt. Es gibt keine Ecken und Kanten mehr, an denen wir uns vermeintlich stoßen könnten. Der Nebel der Glücksseligkeit breitet sich über alle Täler und Gebirge aus, die sonst unseren Alltag ausmachen. Es herrscht eine alles seligmachende Grund­stim­mung. Eine Stimmung, in der Gegensätze nur noch wenig Bedeutung haben.

Unter Alkoholeinfluß schaffen wir uns also in der Regel unser persönliches Paradies, in dem wir auf das Produzieren von Gegensätzen verzichten. Der Kater und damit der Katzenjammer kommt zwar am anderen Morgen, im Hier und Jetzt stört uns das aber wenig. Wer hindert uns eigentlich daran, im Normalzustand auf das Bilden von Gegensätzen zu verzichten?

Natürlich nur wir selbst. Wir machen uns Ängste und Sorgen über dieses und jenes, über gestern und morgen; wir wünschen uns den Himmel und fürchten die Hölle; wir möchten die Welt umarmen und verhalten uns wie ein Eisberg; wir suchen das Glück und finden das Leid.

So stolpern wir durch unser Leben, den Berg rauf und wieder runter. Warum?

In der christlichen Mythodologie wird von der Erbsünde gesprochen. Andere Religionen sprechen vom Karma. Man könnte auch Schicksal dazu sagen.

Es ist wie ein Zwang. Statt die Freiheit zu genießen und richtig durchzuatmen, beugen wir uns unter der Last der Verantwortung für unsere Existenz und die unserer Nächsten. Rackern, jagen, schuften wir, nur, um nach einigen kurzen Jahrzehnten den Zivilisationstod zu erleiden. Warum hetzen wir eigentlich durch unser Leben, warum machen wir uns so viel Druck?

Früher haben die Leute mit einem Bruchteil von dem gelebt, was wir heute an Einkommen zur Verfügung haben. Waren sie deshalb unglücklich, unglücklicher als wir? Ich glaube kaum.

Ist ein schneller Flitzer, ein hübsches Haus, eine tolle Urlaubsreise notwendig, um Glück zu erfahren?

Das Problem, das wir haben, ist das gleiche Problem, das Eva schon hatte. Wir geben uns nicht damit zufrieden, was ist, sondern wir wollen mehr. Wir wollen mehr Geld, mehr Erfolg, mehr Lust, mehr Gesundheit, mehr Liebe, mehr Glück, etc. Und umgekehrt wollen wir weniger arbei­ten, weniger Verantwortung tragen, weniger leiden, usw.

Die Erbsünde ist tatsächlich vererbt worden. Wir lassen uns ständig verführen. Nicht nur von der Werbung, wir verführen uns quasi selbst. Der Teufel steckt in uns. Denn das Außen ist ja ein Abbild des Inneren. Wir schaffen uns selbst die Produkte, nach denen wir jagen. Wie bei den Fischern, die vor dem Fang eine Ladung Fische in den See werfen.

Vielleicht wird es Ihnen jetzt klar. Das Ganze ist ein Spiel. Ein äußerst kreatives Spiel. Wir verwandeln dieses nichtssagende Potential in eine gegensätzliche Erfahrung und könnten dabei unseren paradiesischen Spaß haben. Weil wir aber mehr haben wollen als gerade zur Verfügung steht, werden wir mit dem Weniger konfrontiert.

Es ist wie im Supermarkt. Obwohl wir nicht genug Geld dabei haben, verlocken uns die Angebote derart, daß wir den Wagen volladen und damit den Ärger an der Kasse vorprogram­mieren. Wir können mit dem Überfluß nicht umgehen, damit natürlich auch nicht mit dem Mangel, denn das eine ist komplementär zum anderen. Oder was wir auf der einen Seite zuviel haben, haben wir auf der anderen Seite zuwenig.

Mit anderen Worten: Wir müssen Bescheidenheit lernen. Uns mit dem zufrieden geben, was ist. Auch mit dem, was wir als Unzulänglichkeit oder als Ungerech­tigkeit bezeichnen. Denn für Ungleiches sind wir selbst verantwortlich. Erst dann werden wir das Paradies erleben, den Himmel auf Erden.

In die stille Wüste der Gottheit führt nichts als geistige Armut. Was ist das? Es gibt Leute, die sich dafür halten, wenn sie ein Leben in Askese, geistigen Übun­gen und Frömmigkeit führen. In Wahrheit sind es Esel. Geistig arm ist vielmehr der, der nicht einmal so viel will, daß er den Willen Gottes erfüllen möchte. Daß er nicht einmal weiß, daß Gott in ihm wirkt, und daß er nicht einmal so viel will, daß er den Willen Gottes erfüllen möchte.

Mit anderen Worten: Mystisch arm ist der, der so ist, wie er war, als er noch nicht war. (Meister Eckhardt)

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