Das Ding an sich

Teil 3: Das Gegensatz-Prinzip

2.2 Der Tod als Schlüssel zum Leben

Wir gelangen nun in höhere Sphären. Wenn wir den Kampf ums Überleben einiger­maßen gewonnen oder zumindest unter Kontrolle haben, fragt sich der eine oder andere, was er damit erreicht hat. Es gibt genügend Beispiele von Menschen, die ihr ganzes Leben schuften, Streß haben, arbeiten, und wenn sie dann in den verdienten Ruhestand treten, kurze Zeit darauf sterben. Was haben sie von ihrem Leben gehabt? Nichts, ist man geneigt zu sagen. Denn arbeiten allein kann nicht der Sinn des Lebens sein, oder doch?

Betrachten wir die ganze Geschichte aus der Gegensatz-Perspektive. Der Ge­gen­satz zwischen Leben und Tod ist zweiffellos auch ein Gegensatz, den wir Men­­schen geschaffen haben, weil wir uns ans Leben klammern und den Tod fürchten wie die Pest.

Jeder Anfang hat nun einmal ein Ende. D.h. in dem Moment, wo wir darauf bestehen, irgendwann in grauer Vorzeit geboren worden zu sein, werden wir in naher oder ferner Zukunft sterben müssen. Solange wir in Gegensätzen denken und fühlen, geht kein Weg daran vorbei.

Unsere Welt ist jedoch, wie ich hoffentlich im ersten Teil dieses Buches einiger­maßen deutlich gemacht habe, nicht unbedingt so einfach gestrickt, wie wir uns das weis machen wollen. Das, was wir von der Welt sehen, hören und riechen; das, was wir von uns denken und fühlen; das, was man uns von ihr glauben machen will – also eine zweigeteilte Welt, in der Materie und Geist, Ich und Du, Männlein und Weiblein ihren Schabernack spielen, ist nur die eine mögliche Betrachtungsweise.

In der anderen gehören die Gegensätze gleichgewichtig zusammen, bilden eine sich widerspiegelnde Einheit, löst sich der ganze Spuk im unendlichen Wohlgefallen auf. D.h. je mehr wir uns an das Leben klammern, desto stärker wird die Angst vor dem Tod. Je wichtiger wir uns selber nehmen, desto weniger können wir von uns Abschied nehmen.

In dem Moment, wo wir es schaffen, die Unterschiede aufzuheben, die Spann­ung aus den Gegensätzen herauszunehmen, spielt weder die Vergangenheit noch die Zukunft, weder das Leben noch der Tod eine wesentliche Rolle.

Wir können gar nicht sterben. Weil wir weder tot noch lebendig sind. Das, was wir als Leben bezeichnen, ist eine Kette von zwanghaften, gegensätzlichen Reaktionen. Unsere einzige Aufgabe, die wir uns auch noch selber gestellt ha­ben, ist, uns davon zu befreien. Was wirklich zählt, ist die Gegenwart. Das Hier und Jetzt. Das Bewußtsein des Seins im Bewußtsein des Nicht-Seins.

Stell Dir vor, Du seist todkrank und hättest nur noch wenige Wochen zu leben. Um wieviel bewußter würdest Du leben. Wieviel würdest Du noch versuchen, mitzu­bekommen. Jeder Geruch, jede Stimme, jedes Bild würdest Du in Dich aufsaugen. Vergangenheit und Zukunft würden für Dich nicht mehr zählen. Du würdest nur noch intensiv erleben wollen. Jede Sekunde wäre eine Kostbarkeit für Dich.

Und genau darum geht es. Wir sind doch alle todkrank! In jedem Moment kann uns das Ende packen. Auf der Straße, im Auto, zu Hause, als Unfall oder tödliche Krankheit. Mach Dir Deine Sterblichkeit bewußt! Täglich, stündlich. Du wirst die Welt in einem anderen Licht erleben. Du wirst die Verbindung spüren zu all den Kreaturen, die dem gleichen Schicksal unterliegen. Die täglich vor Deinen Augen und Ohren ihr Lied singen. Als Bäume, die Blätter und Äste hervor­bringen und abwerfen; als Tiere, die manchmal nur Tage oder Wochen erleben dürfen; als Menschen, wo der Greis schon in den Kinderschuhen steckt. Muß Dich das traurig stimmen?

Nein. Eine Welt zu empfinden, in der Tod und Leben wie selbstverständlich zusammenwirkt, macht frei. Befreit Dich von kleingeistigen, egoistischen Bin­dungen an ein zwanghaftes Weiterleben. Befreit Dich von der Angst, alles zu verlieren, wo Du doch alles gewinnen kannst.

Stell Dir vor, Du hättest keine Angst mehr vor dem Tod. Was kann Dir dann noch passieren?

Wenn es nicht mehr wichtig ist, wann Du stirbst, wie Du stirbst, und ob Du überhaupt stirbst; wenn es nicht mehr wichtig ist, ob Du im Luxus schwelgst oder unter den Brücken schläfst; wenn es nicht mehr wichtig ist, ob Du morgen noch etwas zum Beißen hast, Deine Frau fremd geht, die Welt sich vorwärts oder rückwärts dreht – sondern, wenn allein der Augenblick mit der Summe seiner möglichen Erfahrungen zählt, ohne Wertung, einfach so – dann steht Dir die Welt offen. Dann hast Du Dich von den Fesseln befreit, die Du Dir selber angelegt hast. Dann kannst Du aufsteigen in das Land der unbegrenzten Mög­lichkeiten, ins Paradies, in den Himmel, ins Nirwana oder sonstwohin. Du wirst eins mit dem Unendlichen, dem Allmächtigen, dem Göttlichen. Du bist Gott.

„Schließlich öffnet sich das ‚Auge der Weisheit‘, und das Unendliche wird unmittelbar wahrgenommen. Die Welt versinkt in Nichts. Der Geist scheint sich aufzulösen und fließt über in Savikalpa-Samadhi. Dann kommt Nirvikalpa, das höchste überbewußte Erlebnis. Die absolute Vereinigung: Nichts ist zu sehen. Nichts ist zu hören. Unendlichkeit! Unendlichkeit allein! Es ist ein unmittelbares Erlebnis. Dieser Bewußtseinszustand ist jenseits von Dualität und Nicht-Dualität. Wer ihn erreicht, kann nur mit großer Anstrengung in die ihm unwirklich dünkende Welt der Erscheinungen zurückkehren. Im Samadhi verschwindet das Weltall. Fragt ihr einen Seher über seine Erfahrungen, so wird er sagen: Dort ist alles unendliche Seligkeit, dort gibt es kein Ich und kein Du. Es ist das Erlebnis des allerhöchsten Glücksgefühls.“ (Zeisel, J., a.a.O., S. 224)

Das hört sich gut an. Aber so weit ist wohl keiner von uns. Wie sieht es überhaupt mit unserer Entwicklung aus? Was entwickelt sich denn da eigentlich?

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