Eine philosophische Entdeckungsreise

Das Spiel mit dem Gegensatz

1.3 Platons Höhle

Vor einigen Jahren schlug der Blitz der Erkenntnis bei mir ein, als ich in einem Fachbuch las, daß bei einem Schuß die Kraft, die die Kugel nach vorne treibt, genauso groß ist, wie die Kraft, die den Rückstoß bewirkt. Beide Kräfte zusammen addieren sich zu Null.

Ich nehme an, daß sich jetzt Ihre Begeisterung darüber in Grenzen halten wird, weil Ihnen der Zusammenhang nicht ganz klar ist. Aber damals ahnte ich, daß diese simple Tatsache fundamentale Auswirkungen auf mein Weltbild haben würde. Dieses Null-Summen-Spiel kommt nämlich nicht nur beim Waffen­ge­brauch vor, sondern ist die Grundlage aller Erfahrungen, die wir machen.

Und damit sind wir mitten im Thema. Wie kommt eigentlich eine Erfahrung zustande?

Die heiße Herdplatte ist jedem aus der Kinderzeit geläufig. D.h. in dem Augen­blick, wo wir mit der Hand auf die Herdplatte faßten, erweiterte sich unser Bewußt­sein um das Wissen, daß es heiße und kalte Gegenstände gibt. Ein neuer Gegen­satz wurde geboren.

Erfahrungen bestehen, soweit wir sie begrifflich artikulieren, immer aus Gegensätzen. Unser ge­sam­tes Weltbild ist gegensätzlich orientiert. Hoch-tief, dick-dünn, groß-klein, Glück-Pech, Lust-Leid, dumm-schlau, usw. Unsere Sprache und unser Denken kann gar nicht anders, als sich gegen­sätzlich auszudrücken.

Und nicht nur das. Wenn wir uns die Welt ansehen, entdecken wir einen Gegensatz nach dem anderen.

Nehmen wir einmal die Zeit. Normalerweise leben wir in der Gegenwart, d.h. im Hier und Jetzt. So­bald wir jedoch einen Gedanken in die Vergangenheit oder Zukunft lenken, spalten wir die Gegenwart auf. Zeit, als etwas Vergängliches, wird uns jetzt erst bewußt. Wir erfinden sozusagen den Zeitfluß in dem Moment, wo wir darüber nachdenken.

Jetzt werden Sie einwerfen, daß die Zeit auch unabhängig von unseren Gedan­ken abläuft. Ich möchte an dieser Stelle noch nicht allzusehr auf diese Behaup­tung eingehen. Später werden wir eine bessere Grundlage haben, um diese Pro­ble­matik zu verstehen. Die Frage wird nämlich sein, wieweit wir zwischen subjektiven und objektiven Erfahrungen (auch ein Gegensatz) unterscheiden wollen.

Bevor es jetzt zu kompliziert wird, lassen Sie uns lieber noch weiter über den Gegensatz philosophieren.

Sie kennen doch sicher alle aus leidlicher Erfahrung das Sprichwort: „Es kommt immer anders, als man denkt“. Wenn Sie in einer Zeitschrift etwas suchen, steht es garantiert auf der letzten Seite. Fangen Sie schlauerweise hinten an, steht es auf der ersten Seite. Es ist gerade so, als ob das Schicksal uns auf den Arm nehmen wollte (oder Schlimmeres).

Derartige Ungereimtheiten begegnen uns öfter am Tage (mir geht es wenigstens so). Wir denken wenig darüber nach, schließlich handelt es sich hier um Zufälle. Außerdem fällt einem manchmal genau entgegengesetzt das Gesuchte wie die reife Baumfrucht geradezu in den Schoß. Vor allem dann, wenn man aufhört zu suchen.

Das hört sich reichlich esoterisch an, aber Sie selbst können diese Zusammenhän­ge beobachten, wie z.B. folgende Geschichte demonstriert.

Nehmen wir einmal an, Sie suchen verzweifelt eine neue Wohnung und finden trotz intensiver Bemühungen keine passende. Entweder sie ist zu teuer, zu schlecht gelegen oder schon vergeben. Verzweifelt geben Sie die Hoffnung auf, jemals in Ihrem Leben aus der „Bruchbude“ (Verzeihung, ich möchte niemanden beleidigen, es ist ja nur eine Geschichte), in der Sie jetzt wohnen, herauszu­kommen.

Mit Ihrem Schicksal hadernd, gehen Sie in Ihre Stammkneipe (oder Cafe, Vereins­lokal, etc), trinken den einen und dann den anderen, kommen mit Ihrem The­kennachbarn ins Gespräch und der erwähnt nebenbei, daß sein Bruder heiratet und seine Wohnung aufgibt.

Am anderen Morgen finden Sie einen Zettel mit einer Telefonnummer in Ihrer Hosen­tasche. Dunkel erinnern Sie sich, daß es dabei um irgendeine Wohnung ging. Hoffnungen keimen auf. Sie rufen an, aber keiner nimmt ab. Der Zettel bleibt zwei Tage liegen. Dann räumen Sie endlich einmal wieder Ihre Wohnung auf. Wieder entdecken Sie die Telefonnummer. Eigentlich haben Sie schon keine Lust mehr, überhaupt anzurufen. Sie tun es trotzdem. Es nimmt jemand ab, und Sie vereinbaren einen Besichtigungstermin. Und, wie sollte es auch anders sein, es handelt sich dabei um Ihre Traumwohnung, fast umsonst und sogar mit einer äußerst netten alleinstehenden Nachbarin.

Gut, hier handelt es sich natürlich um ein konstruiertes Beispiel und nicht jeder wird sich mit dem Wohnungssuchenden identifizieren können. Aber suchen wir nicht alle ständig unsere Traumwohnung? Einen Ort, wo das Glück komplett ist, das Paradies auf Erden? Und wer findet ihn schon. Müssen wir dafür jeden Sonntag in die Kirche gehen, unsere Sünden beichten, das Karma auflösen? Gutes tun, Nächstenliebe praktizieren, geduldig auf himmlischen Lohn warten? Oder sind diejenigen im Recht, die sich das nehmen, was ihnen das Schicksal an Chancen bietet, die jetzt absahnen, die über Leichen gehen, die Ehrliche verhöhnen, sich brutal durchsetzen.

Sie merken, auch hier wieder ein Gegensatz. Die Welt ist voll davon. Auch der Gegensatz zwischen Glück und Unglück gehört in diese Kategorie. Warum laufen wir eigentlich dem Glück hinterher? Vielleicht ist das gerade der Fehler. Irgendwo habe ich einmal gelesen, daß man das Glück nicht finden kann, sondern man kann nur glücklich  s e i n.

Doch wir sollten nicht abschweifen. Über diese fundamentalen Fragen werden wir uns noch genug den Kopf zerbrechen. Das zitierte Beispiel von der Suche nach der Traumwohnung zeigte ja nicht nur, daß es immer anders kommt, als man denkt, sondern deutete an, daß die Welt möglicherweise anders aufgebaut ist, als in der Schule erzählt wurde.

Sollte etwa das, was sich in meinem Inneren abspielt, also meine Verzweiflung, meine Hoffnung, meine Wut, mit den äußeren Geschehnissen etwas zu tun haben? Ich meine, eigentlich müßte es doch letztlich gleichgültig sein, was ich denke und was ich fühle, die Welt ist unabhängig davon. Die Sonne geht morgens, egal, wie ich gelaunt bin, stur im Osten auf, auf der Straße ist derselbe Lärm und im Büro der gleiche Ärger. Oder nicht?

Irgend­wann in den siebziger Jahren sah ich zufällig einen Film (vielleicht haben Sie ihn auch gesehen), der mich auf eine verrückte Idee brachte. Der Film nannte sich „Welt am Draht“ und spielte in einer Computer-Welt, die von der „richtigen“ Welt manipuliert wurde. Die elektro­ni­schen Wesen wußten allerdings nichts von ihrem (Un-)Glück und lebten wie wir in den Tag hinein, ohne sich über bestimmte seltsame Vorkommnisse in ihrer Umwelt zu wundern. Bis eines Tages ein Journalist damit begann, den Geheimnissen seiner Umwelt auf die Spur zu kommen und sich selbst dabei mit einem Trick in die „richtige“ Welt zu befördern.

Vielleicht, so dachte ich, leben wir auch in einer Welt am Draht, quasi wie Mario­netten, deren Erlebnisse das Ergebnis bewußter Planung und kein zufälli­ges Produkt waren. Doch wo waren der oder die Drahtzieher?

Die Computer-Theorie verwarf ich, da sie mir unwahrscheinlich erschien. Beson­ders gläubig war ich damals auch nicht, so daß eine nebelhafte Begründung vom Wirken Gottes mich auch nicht überzeugte.

Der Naturwissenschaftler sagt Zufall, wenn er mit seinem Latein am Ende ist. Alles, was nicht berechenbar ist, entzieht sich seiner Vorstellung. Trotzdem gesche­hen um uns herum täglich Wunder. Todkranke genesen, Unglücksopfer werden auf wunderbare Weise gerettet, der Glaube versetzt buchstäblich Berge.

Eine kleine Notiz in einer Zeitung erschütterte zusätzlich mein Weltbild. Zwei Arbeiter waren in einem Kühlhaus eingeschlossen worden, wo das Thermometer auf minus 20 Grad zeigte. Nach einigen Stunden entdeckte man die beiden: tot mit allen Symptomen von Erfrierungserschei­nungen. Als man die wahre Tem­pera­tur nachgemessen hatte, stellte sich heraus, daß das Thermometer defekt war und die eigentliche Temperatur plus 8 Grad betrug. Bei dieser Tempe­ra­tur kann man es unter Umständen Tage aushalten.

Unter Hypnose zeigt sich, wie dünn die Decke ist, auf der wir uns so sicher wähnen. Wenn ein geschickter Hypnotiseur seinen „Opfern“ eine angeblich glühend heiße Münze auf die Haut legt, bilden sich Brandblasen. Yogis, heutzutage sogar normale Menschen, laufen über glühende Kohlen, ohne sich die Füße zu verbrennen, andere stechen sich lange Nadeln durch den Hals, ohne zu bluten, usw. Selbst, wenn man vieles abzieht, bleibt doch genügend übrig, um nach­denk­lich zu werden.

Allerdings brauchen wir so augenfällige Wunder nicht, die in irgendwelchen fernen Ländern oder zumindest außerhalb von uns passieren. Das tägliche Wunder geschieht bereits dann, wenn wir morgens wach werden. Wenn das, war wir Bewußtsein nennen, in unseren Körper einzieht und uns planmäßig Din­ge bewerkstelligen läßt, die für uns von Vorteil sind bzw. sein sollten.

Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, was Wirklichkeit eigentlich ist? Was wirkt auf uns ein?

Wenn Sie die Augen schließen, können Sie am besten die Wirklichkeit beobach­ten (schöner Gegen­satz). Geräusche dringen auf uns ein, Gefühle werden wach. Gedanken kommen und gehen. Draußen bellt ein Hund, Autos fahren vorbei, die Haut juckt, der linke Arm liegt unbe­quem, und zur Bank muß ich auch noch.

Schon hat uns die Wirklichkeit wieder gefangen. Tagein, tagaus spulen wir unser Programm ab. Kindheit, Jugend, Beruf, Familie, Gesundheit, Krankheit, Tod – kurz das, was wir Leben nennen.

Wir leben in einem einzigen Gefängnis und das Wunder ist, daß wir das noch nicht bemerkt ha­ben. Unsere Wünsche und Bedürfnisse, unsere Ängste und unsere Sorgen machen uns blind oder lenken unsere Augen in die falsche Richtung, wie uns Platons Höhlengleichnis belehrt. Nach Platon stehen wir in einer Höhle, mit dem Rücken zum Eingang, und glauben, daß die Schatten der vor der Höhle Vorbeiziehenden die Wirklichkeit seien. Wir sind so fest davon überzeugt, daß unsere Wahrnehmungen die Realität wiedergeben, daß wir gar nicht auf den Gedanken kom­men, es könnte eine Täuschung sein. Drehte sich jedoch jemand um, würde er sich verwun­dert die Augen reiben. Würde er die Höhle verlassen, müßte er die Augen bedecken, um nicht vom Sonnenlicht geblendet zu werden. Wenn er überhaupt zurückkehrte, würde ihm niemand die phantastischen Geschichten glauben.

Schön gesagt, doch können Sie mit den Worten von Platon etwas anfangen? Don Juan, der india­nische Lehrer von Carlos Castaneda, sagte einmal zu sei­nem Schüler, daß er ihm das größte Geheimnis anvertrauen möchte. Er deutete in alle vier Himmelsrichtungen und sprach dabei von der Ewigkeit, die um uns sei. „Überall ist die Ewigkeit, im Osten, Westen, Norden oder Süden.“ Der arme Carlos verstand natürlich nichts, und Ihnen geht es wahrscheinlich genauso.

  • Anonymous

    Vielen Dank für dieses Buch. Es ist seit langem ein Buch das ich sofort komplett bis zum Ende gelesen habe. Viele Grüsse Willy

    • hulrich

      Vielen Dank, Willy! Ist schön, wenn mal jemand antwortet und dann noch so positiv. Für weitere Fragen oder Kommentare stehe ich gerne zur Verfügung. Hans Ulrich

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