Eine philosophische Entdeckungsreise

Das Spiel mit dem Gegensatz

2.5 Das Ende vom Liede

Unser philosophischer Spaziergang durch die Welt des Gegensatzes neigt sich seinem Ende zu. Meinen herzlichen Glückwunsch an Dich, daß Du noch dabei bist. Vieles von dem, was hier gesagt wurde, ist nicht so einfach zu verdauen. Obwohl ich mich bemüht habe, immer den Bezug zur Praxis aufzuzeigen, dürfte manchmal bei dem einen oder anderen der Faden gerissen sein.

Sich vorzustellen, daß die Welt, die wir erleben – laut, handfest, manchmal schmerzhaft, schön, häßlich – quasi „nur“ geistig existiert, also eine Einbildung ist, grenzt an Unmöglichkeit. Aber was heißt nur? Das Geistige ist dem Materiellen immanent. Wenn Du glaubst, Du hättest noch keinen Geist gesehen, dann sieh einfach in den Spiegel oder schau Dir die anderen Leute an. Es sind alles Geister. Geister, die Du gerufen hast. Wie Du sie wieder loswirst, wenn Du das willst, hast Du gelesen. Aber vielleicht willst Du sie ja nicht wieder los­wer­den. Was soll der ganze Quatsch mit der Gegensätzlichkeit? Schließlich bist Du zufrieden mit Deinem Leben. Höhen und Tiefen wechseln harmonisch mitein­ander ab. Freud und Leid empfindest Du als Bereicherung. Und der Tod ist weit weg. Und wenn er kommt, dann nimmst Du ihn eben als ein natürliches Ende hin. Und damit basta.

Wenn Du so denkst, dann hast Du leider meine Ausführungen mißverstanden. Das Leben mit all seinen Ecken und Kanten, mit seinem Rauf und Runter, mit seinen Höhe- und Tiefpunkten wahrzunehmen, daran teilzunehmen, es zu genießen, ist genau der Tenor dieser Philosophie. Es gibt eigentlich nur zwei Dinge, auf die es mir in diesem Zusammenhang ankommt. Das eine ist, daß wir uns unsere Situation bewußt machen, daß wir uns bewußt sind, was in einem bestimmten Moment abläuft. Und das andere ist, daß wir lernen, zwanghafte Bewertungen (Das eine will ich und das andere nicht) umzusetzen in eine freiwillige, kontrollierte Entscheidung. Alles andere ergibt sich von selbst.

Ist das zuviel? Bestimmt nicht. Zumal eigentlich nur eins dagegen spricht. Deine Bequemlichkeit.

Unsere allgemeine Faulheit, um darauf noch einmal zu sprechen zu kommen, ist ohnehin eigentlich unser größtes Problem. Je mehr wir uns der Materie zu­wen­den, materiell zunehmen, denken, fühlen, desto bequemer werden wir. Umge­kehrt, je geistiger wir werden, d.h. leichter, schneller, flexibler, desto akti­ver werden wir auch. Masse macht träge, geistiges macht fit. Das kann man allein schon beim Essen beobachten. Wer viel kalorienreiches ißt (Kartoffeln, Fleisch, Fett), fühlt sich nicht nur nach dem Essen müde und träge, sondern schleppt sich auch so nur mühsam durch das Leben. Wer hingegen leichte Kost bevorzugt, frische, vollwertige Produkte ißt, der fühlt sich auch entsprechend beflügelt.

Gut, was kannst Du nun am besten tun?

Nichts. Zumindest nichts von dem, was Du glaubst, was Du tun müßtest. Du brauchst weder Deinen matten Körper in das nächste Fitness-Center schleppen, auf Deine Lieblings-Götterspeise zu verzichten oder den Canossa-Gang zu Deinem Nachbarn anzutreten. Du brauchst auch nicht den Psychotherapeuten zu konsultieren, um Dich von Deinen frühkindlich bedingten trau­ma­ti­schen Neurosen zu befreien. Niemand zwingt Dich zu irgendetwas. Nichts ist wichtig. Es sei denn, Du erklärst es dazu. Das einzige, worauf es in diesem Zusammen­hang ankommt: Schau hin. Stell Dich über Dich und guck Dir an, was Du tust. Mach Dir bewußt, was Du ablehnst, und was Du begehrst. Und achte darauf, was passiert. Wer, wie oder was kommt auf Dich zu? Was hast Du vorher oder gleichzeitig gedacht, getan oder gefühlt? Siehst Du Zusammenhänge? Wisch das Unerklärliche nicht so ohne weiteres weg. Zufälle fallen Dir zu. Sie sind dazu da, damit Dir klar wird, daß Du Dich in einem größeren Radius wahrnimmst, als Dir die Schule weisgemacht hat.

Laß den Fluß des Lebens weiterlaufen. Schwimm mit und versuche ihn nicht, durch Deine Wün­sche und Ängste anzuhalten. Tu das, was anliegt, was auf Dich zukommt.

Und wenn Du Dein Bewußt-Sein so weit geöffnet hast, dann wird auch Dein Wunsch entwickelt sein, Dein Leben selber in die Hand zu nehmen. Die Chan­cen zu nutzen, die Dir das geistige Potential bietet, dem Du selber angehörst. Laß den Gegensätzen in Deinem Leben die Luft heraus. Bewahre die Ruhe. Und laß Dich nicht entmutigen. Fang bei den kleinen Dingen an. Bei den lieben Gewohnheiten. Übe Dich im Nicht-Tun, d.h. tu das, was Du gerade nicht tun möchtest. Du entdeckst damit die Welt.

Frag Dich jeden Tag, was Du heute für Deine Ganzheitlichkeit getan hast oder tun kannst. Und wenn Du nur einmal das Gefühl hattest, wirklich bewußt und damit frei zu sein. Dich und die Welt in einem Atemzug erlebt. Das genügt. Deine Entwicklung wird weitergehen. Ob Du das willst oder nicht. Wir entwickeln uns alle weiter. Ob in diesem oder in jenem Leben. Jeder wird soweit kommen, daß er der Gegensätze-Paar vereinigt sieht, daß er das Karma der Erbsünde getilgt hat, das verlorene Paradies wiederfindet. Und das muß nicht 100 oder 1000 Jahre dauern, sondern es kann sofort passieren.

Jetzt, in diesem Moment sind wir alle, die Lebenden und die Toten, vereint. Alle Zeiten ruhen in diesem Augenblick, alle Torheiten sind entschuldigt, alle Wege sind am Ziel. Deshalb bedarf es auch dieses Buches nicht. Du bist der Teil und das Ganze. Du bist Individuum und Potential in einem. Deshalb ist es eigentlich auch völlig unwichtig, was Du tust und das, was in diesem Buch empfohlen wurde, auch vollkommen falsch. Es kommt eigentlich nur auf den Standpunkt an, den Du einnimmst. Siehst Du Dich als Individuum, dann kämpfst Du mit den Gegensätzen. Siehst Du Dich als Ganzheit, dann ist alles nur ein Scheingefecht. Ein Rudern auf der Stelle, ohne Gewinn und Verlust.

„Die Welt, Freund Govinda, ist nicht unvollkommen oder auf einem langsamen Wege zur Vollkommenheit begriffen: Nein, sie ist in jedem Augenblick voll­kom­men, alle Sünde trägt schon die Gnade in sich, alle kleinen Kinder haben schon den Greis in sich, alle Säuglinge den Tod, alle Sterbenden das ewige Leben. Es gibt in der tiefen Meditation die Möglichkeit, die Zeit aufzu­heben, alles gewese­ne, seiende und sein werdende Leben als gleichzeitig zu sehen, und da ist alles gut, alles vollkommen, alles ist Brahman. Darum scheint mir das, was war, gut, scheint mir Tod  wie Leben, Sünde wie Heiligkeit, Klugheit wie Torheit, alles muß so sein, alles bedarf nur meiner Zustimmung, nur meiner Willigkeit, meines liebenden Einverständnisses, so ist es für mich gut, kann mich nur fördern, kann mir nie schaden.“ (Herrmann Hesse, Siddharta)

 

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    • Anonymous

      Vielen Dank für dieses Buch. Es ist seit langem ein Buch das ich sofort komplett bis zum Ende gelesen habe. Viele Grüsse Willy

      • hulrich

        Vielen Dank, Willy! Ist schön, wenn mal jemand antwortet und dann noch so positiv. Für weitere Fragen oder Kommentare stehe ich gerne zur Verfügung. Hans Ulrich

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