Eine philosophische Entdeckungsreise

Das Spiel mit dem Gegensatz

1.6 Wie wirklich ist die Wirklichkeit?

Bleiben wir doch gleich bei dem Beispiel „mit-der-Faust-auf-den-Tisch-hauen“. Zugegeben, eine Tischplatte kann ganz schön widerstandsfähig sein. Aber was ein richtiger Karate-Kämpfer ist, der schlägt so manche Platte einfach durch. Und was er nicht schafft, das schafft die Säge.

Sie werden jetzt die Stirn runzeln und sich fragen, was ich damit sagen will. Nun, Materie ist zwar ein mitunter recht feste Sache, aber bei genauerem Hinsehen (oder um bei dem Beispiel zu bleiben: Hinhauen) entpuppt sie sich recht schnell als etwas, was wie Sand durch die geschlossene Hand rieselt. Aus Holz wird bald Sägemehl, und wenn man dieses durchs Mikroskop untersucht, zeigen sich noch kleinere Strukturen (Zellbestandteile, Moleküle, Atome, Elementarteilchen). In immer kleineren Dimensionen löst sich die ganze Geschichte wie eine Fata Morgana im Wohlgefallen auf. Und was bleibt? Nichts.

Das kann doch wohl nicht sein, werden Sie mir entgegenhalten. Schließlich existiert diese Tischplatte, und wenn ich mich daran stoße, dann ernte ich nicht nur einen Schmerzimpuls, sondern auch einen sichtbaren blauen Fleck. Also muß doch irgendetwas an dieser Platte sein, das ist. Das Wirkungen erzeugt. Ein Nichts kann doch nichts (!?) bewirken, oder doch?

Also noch einmal von vorne. Materie, d.h. Holz, Eisen, Steine, aber auch Ihr Körper, verflüchtigt sich bei näherem Hinsehen wie der englische Philosoph Karl Popper einmal sagte, zu Nebel. D.h. wenn man diese Dinge wissenschaftlich untersucht, stößt man auf immer kleinere Einheiten, die letztlich nicht näher zu bestimmen sind. Die sogenannte Unschärferelation des deutschen Physi­kers Werner Heisenberg gehört in diese Rubrik genauso wie die Tatsache, daß zwischen einem Atomkern und dem ihn umkreisenden Elektron im Verhältnis zu ihrer Größe umgerechnet ein Abstand von mehreren Kilometern besteht, der mit „nichts“ gefüllt ist.

Das, was wir Materie nennen, kann man mit Fug und Recht als Verunreinigung eines an sich leeren Universums bezeichnen. Und diese Verunreinigung selber gleicht in ihren elementaren Bestandteilen eher einer Wolke als einem handfesten Ding. Es ist ungefähr so, als wenn Sie einen wunderschönen Ballon anstechen und die ganze Geschichte mit einem Knall verpufft. Statt daß Materie solide auf einem Urbaustein aufbaut, den schon die alten Griechen gesucht haben, erweist sie sich als leeres Gefäß.

Glauben Sie mir nicht? Nicht alle Naturwissenschaftler würden mich mit Füßen treten. Vor allem unter den Physikern gibt es etliche, die einer solchen Ansicht schon lange zuneigen.  Auch Erwin Schrödinger, ein berühmter Naturwissen­schaft­ler, versteht die eigentliche Wirklichkeit als Geist. “Die Vielheit an­schau­en­der und denkender Individuen ist nur Schein, sie besteht in Wirklichkeit gar nicht”. Und Hans-Peter Dürr, Direktor des Werner-Heisenberg-Instituts für Physik und Astrophysik, der Schrödinger zitiert, faßt die Ergebnisse der Quantenphysik wie folgt zusammen:

„Eine konsistente Erklärung der Quantenphänomene kam zu der überra­schen­den Schlußfolge­rung, daß es eine objektivierbare Welt, also eine gegen­ständ­li­che Realität, wie wir sie bei unserer objektiven Betrachtung als selbstverständlich voraus­setzen, gar nicht ‘wirklich’ gibt, sondern daß diese nur eine Konstruktion unseres Denkens ist, eine zweckmäßige Ansicht der Wirklichkeit, die uns hilft, die Tatsachen unserer unmittelbaren äußeren Erfahrung grob zu ordnen. Die Auflösung der dinglichen Wirklicheit offenbarte, daß eine Trennung von Akteur und Zuschauer, von subjektiver und objektiver Wahrnehmung nicht mehr streng möglich ist. Eine ganzheitliche Struktur der Wirklichkeit zeichnete sich ab.“

Ich möchte darauf verzichten, hier weitere Erklärungen zu zitieren. Es sind ja nicht nur die Naturwissenschaftler, die allmählich auf diese Bahn einschwenken, sondern unter den Philosophen z.B. bei den Solipsisten, aber auch bei den Romantikern wie Schelling und Goethe lassen sich genügend Hinweise auf ein ähnliches Weltbild finden. Auch Rudolf Steiner, der Begründer der Anthroposophie, sieht die Einheit in der Zweiheit, wobei letzteres lediglich durch den Verstand entsteht. „Der Verstand schafft die Trennung der einzelnen Gebilde … und die Vernunft erkennt die Einheitlichkeit“ (Steiner,R.: Goethes naturwissenschaftliche Schriften, Dornach 1962). Und daß die fern­öst­li­chen Weisheitslehren die Welt schon lange als Maya, als bloßen Schein, betrach­ten, ist sicher bekannt.

Wir sollten uns bewußt machen, daß der Boden, auf dem wir stehen, keineswegs so sicher ist, wie er ausschaut. Das, was fest ist, ist nicht immer fest. Gerade kann auch ungerade sein. Gestern kann sich mit Morgen vertauschen, usw.

Albert Einstein hat, wie bereits erwähnt, unser herkömmliches Weltbild endgültig zertrümmert, als er in seiner Relativitätstheorie die Begriffe Zeit und Raum zu einer Art Raumzeit verschmelzen ließ bzw. gegenseitig austauschbar machte. (Berühmtes Beispiel: Raumfahrer fliegt mit annähernd Licht­geschwindigkeit zum nächsten Stern und entdeckt bei seiner Rückkehr, daß die Menschen auf der Erde wesentlich schneller gealtert sind als er.)

Nun können wir das Ganze auch als Spielerei bezeichnen. Ob die so scheinbar festgefügte Welt in Wahrheit Löcher wie ein Schweizer Käse hat oder ob in ferner Zukunft Raumfahrer eine Art Jungbrunnen erleben, kann uns eigentlich so ziemlich egal sein. Hauptsache, das Einkommen ist gesichert, am Wochenende kann man ins Grüne fahren und das Pantoffel-Kino hat ein gutes Programm.

Zweifellos denken wir mehr oder weniger alle so. Vor einiger Zeit durfte ich im Kreise meiner Freunde meinen Geburtstag feiern. Bei dieser Gelegenheit fragte ich mich, wo denn die immer­hin 40 Jahre eigentlich geblieben waren. Sicher, ich konnte mich an diese oder jene Begegnung erinnern, Erlebnisse zogen auf Wunsch mehr oder weniger intensiv vorbei. Aber war das alles? Ich hatte das Gefühl, als ob es keine Rolle spielen würde, welchen Geburtstag ich feierte. Ob ich nun 40, 50 oder 70 Jahre alt geworden war, schien mir auf einmal völlig unerheblich. Selbst als ich 20 oder 30 Jahre alt wurde, hatte ich kein anderes Gefühl. Irgendwie ist doch das, was war, wirklich Schnee von gestern. Und das was kommt, bleibt ungewiß. Entscheidend ist die Gegen­wart, das Gefühl vom Hier und Jetzt.

Und als ich so weit war, dachte ich, mein Gott, was ist, wenn du morgen aufwachst und fest­stellst, daß du 80 und fast scheintot bist. Die vierzig Jahre, die dazwischen liegen, werden wie die ersten wie im Traum vorüberziehen. Wenn ich soweit bin, werden sie mir nichts mehr bedeuten als eine schwache Erinnerung. Der Sargdeckel wird aber einladend geöffnet sein, und ich werde mich fragen müssen, was das Ganze eigentlich sollte.

Und da dachte ich, es könne vielleicht gut sein, wenn man sich bereits vorher mit dieser Frage beschäftigt. Die Zeit, die einem bleibt, also nützt, statt sie mit der ständigen Jagd nach Geld, Anerkennung, Komfort und Bequemlichkeit zu fül­len oder sie gar zu vertreiben.

Ein derart löblicher Gedanke wird Ihnen sicher auch schon gekommen sein. Die Frage ist nur, wo ansetzen und was bewirken, mit welcher Zielsetzung.

Doch kommen wir zurück zu unserer physikalischen Wirklichkeit. Es gibt offen­bar zwei Möglich­kei­ten, wie wir Materie betrachten können. Einmal als Mensch in unserer Alltagswirklichkeit, dann stoßen wir uns an der Tischplatte und stehen auf scheinbar festem Boden. Und zum anderen als Wissenschaftler, dann ent­puppt sich hart plötzlich als weich, Gegenstände werden zu Wolken, und aus Raum wird Zeit und umgekehrt.

D.h., es kommt eigentlich nur auf die Perspektive an, von der wir die Wirklichkeit betrachten. Sie nimmt dann die Gestalt an, die wir gerade sehen möchten. Stellen wir uns auf den Standpunkt, daß wir nur das für wahr halten, was wir sehen und fühlen können, bleibt es bei unserer herkömmlichen Wahrnehmung. Untersuchen wir die ganze Geschichte, stellen wir fest, daß eigentlich gar nichts fest steht. Alles ist im Fluß, wie weiland die alten Griechen philosophierten.

Wenn wir Geist als etwas definieren, das unfaßbar, unsichtbar und nicht lokali­sier­­bar ist, dann trifft diese Definition exakt auf die Bestandteile der Materie zu. D.h. Materie und Geist bilden, wie es sich für Gegensätze gehört, eine unauf­hebbare Einheit. Eine Tischplatte können wir als materiell bezeichnen und den Gedanken davon als geistig, beides gehört jedoch zusammen. Bedingt sich wechselseitig. Ist, wenn man es genau nimmt, sogar austauschbar.

Moment, werden Sie jetzt sagen. Austauschbar? Wenn ich an einen Tisch denke, heißt das doch noch lange nicht, daß er auch existiert? Und umgekehrt, existieren Tausende von Tischen, ohne daß jemand einen Gedanken daran ver­schwendet.

Das ist einerseits richtig, andererseits, wie sollte es auch sein, aber falsch. Wir hat­ten dieses Problem vorhin bereits besprochen. Vom objektiven Standpunkt her gesehen existieren sicherlich diese Tausende von Tischen, Stühlen, Kneipen, usw., ohne daß ich einen Gedanken daran verschwende. Subjektiv, d.h. von meiner oder Ihrer Person aus gesehen, existieren sie solange nicht, solange ich oder Sie nicht daran denken. Und da weder ich und auch nicht Sie ständig an Tausende von Tischen denken, sondern allenfalls an einen, wenn Sie davor sitzen, sind sie einfach nicht da. Sie spielen in meiner und in Ihrer Wirklichkeit genauso wenig eine Rolle wie z.B. für einen Bewohner eines abgelegenen Bergdorfes in Kurdistan die Tatsache, daß ich Hans E. Ulrich heiße und Zahn­weh habe. Vielleicht hat dieser Bewohner schon einmal davon gehört, daß es Millionen Deutsche gibt. Aber er kennt uns nicht. Wir haben keine Bedeutung für ihn. Erst wenn ich ihn besuche, erweitert sich seine Wirklichkeit.

Wirklichkeit entsteht also dadurch, daß sie auf mich einwirkt. Durch Begegnungen, Erlebnisse, Gefühle werden Gedanken angeregt. Andererseits können auch bloße Gedanken Wirklichkeit erst hervorrufen, was, wenn die Welt eine Art Einbildung ist, nur konsequent ist.

Daß subjektive Wirklichkeit, und das ist die einzige, die zählt, erst entsteht, wenn ich daran denke, kann man, so glaube ich, nachvollziehen. Wenn ich meinem Freund begegne und mir in diesem Zusammenhang einfällt, was für eine hübsche Frau er hat, bereichern gleich zwei Menschen meine Wirklichkeit. Aber können Gedanken, davon sind wir vorhin ausgegangen, auch Wirklichkeit im Sinne von Realität schaffen, und nicht nur in der Phantasie?

Solange ich ständig nur Kaffee trinke, weil ich meine, daß nur er das einzige Ge­tränk sei, weiß ich nichts davon, wie herrlich ein broken orange pekoe schmeckt. In meiner Wirklichkeit gibt es diesen Tee nicht. Folglich existiert er auch nicht (für mich). Ich kenne ihn überhaupt nicht.

Ich erschaffe mit dieser geistigen Einstellung ein Stück meiner Wirklichkeit, die nur auf Kaffee beschränkt bleibt. Oder wenn ich meine, daß die Welt voller Betrü­ger sei und ich keinem Menschen Vertrauen schenke, existieren auch für mich nur Betrüger. Meine Gedanken erschaffen diese Welt.

Besonders deutlich wird dies, wenn wir nachts allein durch den Wald laufen. Dann werden buchstäblich aus Mücken Elephanten, harmlose Waldtiere zu schreck­lichen Ungeheuern und aus simplen Ästen, die im Winde sich bewegen und aneinanderschlagen, gierige Lustmörder. Unsere Ängste erschaffen eine Welt, die bei Tage besehen als Kunstwelt erscheint, nachts aber so wirklich ist, wie Sie jetzt dieses Buch lesen.

Jetzt kann man natürlich entgegenhalten, daß diese subjektive Interpretation von Wirklichkeit nichts daran ändert, daß objektiv gesehen die Welt voller verschie­de­ner Menschen bzw. der Wald voller Bäume und nicht voller Ungeheuer ist. Aber was heißt hier objektiv?

Wer kann denn schon von sich behaupten, objektiv zu sein? Kein Mensch. Wir sind alle Subjekte. Objektivität gibt es eigentlich nicht. Es ist nur ein Kunstbegriff, den wir benutzen, um eine allgemeine Verständigungsbasis herzustellen. Objek­tivität meint, daß die Welt oder Teile davon unabhängig von uns sind. Das kann man natürlich so sehen. Tatsächlich lebt aber, wie wir schon besprochen haben, jeder Mensch in seiner eigenen Welt. Niemand kann ihn da herausholen.

Er kann zwar selber seine Wirklichkeit überprüfen, beschränken oder erweitern. Aber es bleibt immer ein subjektives Urteil. Niemand kann ihm die Garantie dafür geben, daß die Welt anders ist als sie ihm im gegebenen Moment erscheint. Es nützt ihm nichts, daß tagsüber der Wald friedlich und eine Oase ist, wenn er nachts angstschlotternd hindurchläuft.

Natürlich gehe ich auch davon aus, daß die Tausende von Tischen, um bei diesem banalen Beispiel zu bleiben, gleichzeitig mit mir existieren, ohne daß ich an jeden Einzelnen denke. Genauso, wie ich davon ausgehe, daß meine Verwandten und Bekannten, mein Heimatdorf, mein Auto in der Garage existieren, ohne daß ich daran denke. Und ich gehe auch davon aus, daß es über den Horizont meines Wissens hinaus noch viele Dinge gibt, die ich weder persönlich kenne, noch von denen ich jemals gehört habe. D.h. „objektiv“ betrachtet existie­ren alle diese Dinge, d.h. es besteht berechtigten Grund zu der Annahme. Wenn ich aber einen Beweis dafür haben will, muß ich mich persönlich davon überzeugen.

  • Anonymous

    Vielen Dank für dieses Buch. Es ist seit langem ein Buch das ich sofort komplett bis zum Ende gelesen habe. Viele Grüsse Willy

    • hulrich

      Vielen Dank, Willy! Ist schön, wenn mal jemand antwortet und dann noch so positiv. Für weitere Fragen oder Kommentare stehe ich gerne zur Verfügung. Hans Ulrich

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